24. Jahrgang | Nummer 11 | 24. Mai 2021

Angleichung geht anders

von Ulrich Busch

Alle vier Jahre ist die Bundesregierung verpflichtet, dem Deutschen Bundestag einen Bericht über Armut und Reichtum sowie zu den zentralen Lebenslagen in Deutschland vorzulegen. Die Berichterstattung soll dazu beitragen, die Diskussion über Verarmung und Bereicherung zu versachlichen und zu enttabuisieren. Zugleich dient sie der umfassenden Information der Öffentlichkeit über die Entwicklung der Lebenslagen im zurückliegenden Zeitraum. Just in diesem Monat sind wieder vier Jahre vergangen, so dass ein neuer Bericht fällig war. Es ist bereits der sechste seiner Art, der im Mai, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, dem Bundestag vorgelegt wurde. In ihm werden wesentliche Ergebnisse der Regierungspolitik aufgelistet. Über die Arbeitsmarkt-, Verteilungs- und Sozialpolitik der Koalition wird Bilanz gezogen.

Hatte der erste Bericht im Jahr 2001 noch für einige Aufregung gesorgt und in den Medien verschiedene Debatten zur Verteilungs- und Sozialpolitik ausgelöst, so war dies bei den folgenden Berichten immer weniger der Fall. Der sechste Bericht nun scheint im Rummel um die Lockerung der Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und im Wahlkampfgetöse gänzlich unterzugehen. Zu Unrecht, wie sich zeigt, denn die mehr als 550 Seiten Analysen, angereichert mit Grafiken und Tabellen, bieten durchaus genügend Stoff, über den zu diskutieren sich lohnen würde. Hier sollen nur einige wenige Aspekte angerissen werden. Da der Bericht im Netz steht, kann sich jeder selbst in die Details der Berichterstattung vertiefen und eine Meinung über die ihn interessierenden Daten und Aussagen bilden.

Im ersten Teil des Berichts werden die aktuelle demografische Situation und deren Entwicklung seit 2011 unter die Lupe genommen. Dabei ist die Aussage bemerkenswert, dass die Bevölkerung in Deutschland entgegen allen Vorhersagen in den letzten Jahren nicht gesunken, sondern kräftig gewachsen ist. Der Zuwachs aber geht beinahe komplett auf die Migration zurück. Danach ist die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen seit der letzten Zählung durch den Zensus von 2011 bis 2019 um rund drei Millionen auf 83,2 Millionen Menschen gestiegen. Davon hatten rund 21,2 Millionen Menschen, also rund jeder vierte, einen Migrationshintergrund, was bedeutet, dass er selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren worden ist.

Im Zentrum des Berichts steht die Analyse der Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland. Dabei wird hauptsächlich auf eine Betrachtung der Markteinkommen als wesentlicher Grundlage für die Nettoeinkommen der privaten Haushalte abgestellt. Ferner werden jetzt auch Mobilitätsprozesse über die gesamte Breite der Verteilung in den Blick genommen und Einkommen, Vermögen und Vermögensübertragungen zum Beispiel durch Erbschaften in der Zusammenschau betrachtet. Hier gibt es Erfreuliches zu vermelden: So ist zwischen 2015 und 2019 das Volkseinkommen (in jeweiligen Preisen) um 13,4 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum konnten die Arbeitnehmerentgelte um 18,3 Prozent zulegen, wohingegen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen im Jahr 2019 lediglich um 2,3 Prozent höher lagen als 2015. Bei der politischen Bewertung dieser Fakten ist allerding zu berücksichtigen, dass der beachtliche Zuwachs der Arbeitnehmerentgelte lediglich einen Aufholprozess gegenüber den Unternehmens- und Vermögenseinkommen darstellt, die zuvor viel stärker als die Löhne gewachsen waren. Die seit dem Jahr 2004 zu verzeichnende Lücke zwischen Lohnentwicklung und Wirtschaftsleistung wurde nun nach 15 Jahren endlich geschlossen. Die Ungleichheit der Einkommensverteilung wird dadurch jedoch kaum tangiert. Sie war bis 2005 spürbar gestiegen und blieb seitdem relativ stabil. Der Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung liegt in Deutschland bei etwa 0,29. Das heißt, die obere Hälfte der Verteilung verfügt über 70 Prozent aller Einkommen, die untere Hälfte über 30 Prozent.

Demgegenüber sind die Vermögen deutlich ungleicher verteilt. Beim Nettovermögen der Haushalte betrug der Gini-Koeffizient etwa 0,71. Die Haushalte in der oberen Hälfte der Verteilung besaßen rund 97,5 Prozent, Personen sogar 99,5 Prozent des Gesamtvermögens. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung hatten dagegen ein negatives Vermögen, also nur Schulden. Weitere Teile der Bevölkerung hatten ein Vermögen von Null. Erst im dritten und vierten Dezil finden sich positive Vermögensbestände. Nach dem Jahr 2000 fand ein Anstieg der Vermögensungleichheit statt, der sich im letzten Jahrzehnt aber nicht weiter fortgesetzt hat. – Abwarten, was Corona hier noch für Effekte mit sich bringen wird!

Betrachtet man die privaten Haushalte nach der Höhe ihrer Vermögen, so entfielen auf die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung ein bis drei Prozent des Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich vereinten. Aber auch hier gab es zuletzt kaum noch weitere Verschiebungen. Über ein hohes individuelles Vermögen ab 500.000 Euro verfügten 3,8 Prozent der Bevölkerung. Der Anteil der Männer war dabei knapp doppelt so hoch wie der der Frauen. In dieser Gruppe waren überdurchschnittlich häufig Personen mit sehr hohen Einkommen vertreten, ebenso viele Hauseigentümer, die von den gestiegenen Wohnkosten profitiert haben.

Auch mehr als 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung zeigen sich weiterhin deutliche Unterschiede in der Einkommensverteilung von Ost- und Westdeutschland. Offenbar ist der Konvergenzprozess, die Angleichung der ostdeutschen Werte an die westdeutschen, inzwischen zum Stillstand gekommen: Die Einkommen im Osten stiegen seit 2006 weniger dynamisch als im Westen. Sie betrugen 2016 im Mittel 19.489 Euro in Ostdeutschland (das sind vier Prozent mehr als 2006) und 23.395 Euro in Westdeutschland (das sind zehn Prozent mehr als 2006). Dadurch vergrößerte sich der Abstand der Nettoäquivalenzeinkommen zwischen Ost- und Westdeutschland um 1426 Euro, von 2480 Euro im Jahr 2006 auf 3906 Euro im Jahr 2016! – Angleichung geht anders! Die anhaltende Diskrepanz in den Einkommensverhältnissen gehört ganz klar zur Realität im vereinigten Deutschland.

Krasser noch als die Einkommen klaffen die Vermögen zwischen Ost und West auseinander. Während die westdeutschen privaten Haushalte im Durchschnitt über ein Immobilien- und Geldvermögen von rund 182.000 Euro (netto) verfügten, betrug das durchschnittliche Vermögen der ostdeutschen Haushalte im Jahr 2018 mit knapp 88.000 Euro weniger als die Hälfte. Während sich die Ost-West-Relation der Vermögen im Zeitverlauf leicht verbessert hat, ist die absolute Differenz weiter gestiegen. Betrug sie 1993 noch 89.000 Euro, so waren es 2018 bereits 94.000 Euro. – Auch das spricht nicht für eine Angleichung!

Das niedrigere Einkommens- und Vermögensniveau in Ostdeutschland ging mit einer höheren Armutsrisikoquote einher. Diese betrug 2016 im Osten 22,8 Prozent und im Westen 15,1 Prozent. Dabei wurde mit einer gesamtdeutschen Armutsrisikoschwelle gerechnet. Wäre das ostdeutsche Medianeinkommen als Referenzpunkt herangezogen worden, hätte die Armutsrisikoquote zuletzt nur bei 13,6 Prozent gelegen. Dies spiegelt erneut wider, dass es sich bei der Armutsrisikoquote in erster Linie um ein Verteilungsmaß handelt. Innerhalb Ostdeutschlands sind die Einkommen gleicher verteilt als in Westdeutschland, im Zeitverlauf zeigt sich aber eine sukzessive Annäherung an das westdeutsche Ungleichheitsniveau.