24. Jahrgang | Nummer 11 | 24. Mai 2021

Allmende und Verbote

von Stephan Wohanka

Menschen lieben Verbote.
(Richard David Precht)

Es ist einer der in diesem Jahr bisher seltenen sonnigen, warmen Tage; ein Besuch bei Bekannten im Garten. Unterm Apfelbaum ist es schattig; der Platz lädt zum Verweilen ein. Schnell kommt das Gespräch auf die Politik. Wir lassen die Parteien Revue passieren: „Ach, geh mir weg mit den Grünen, is doch nur ’ne Verbotspartei.“

Dieser Abwehrreflex gegenüber den Grünen legt ein schlechtes Gewissen offen: In den Grünen begegnen namentlich Konservative ihrem verdrängten Erbe. Einst galt ihnen die Schöpfung als Gottes Werk, dann jedoch zunehmend als Ressourcenlieferant für unbegrenztes ökonomisches Wachstum. Inzwischen geschah etwas, was im neuen konservativen Weltbild so nicht vorgesehen war: Es erodieren die natürlichen Quellen des Reichtums und damit die Grundlage des spektakulären Erfolgs der kapitalistischen Ökonomie – mehr noch, der westlichen Zivilisation. Die Natur spielt nicht mehr mit, spielt verrückt, sie fiebert, streikt, verweigert sich – oder verschwindet ganz.

Auf der Suche nach Bewältigungsstrategien für die ökologischen Krisen des 21. Jahrhunderts entsinnt man sich – nicht zum ersten Mal – der Allmendewirtschaft; auch häufig als „Tragik der Allmende“ apostrophiert.

Allmende – der Begriff dürfte nicht Allgemeingut sein: Sie bezeichnete im Mittelalter die Dorfwiese, auf der jeder Dorfbewohner sein Vieh weiden lassen konnte. Erhöht ein Bauer Tier um Tier seinen Viehbestand, steht ihm der dadurch generierte zusätzliche Gewinn allein zu; diese zusätzliche Weidennutzung tragen aber alle anderen Viehhalter durch Einschränkungen ihrer eigenen Nutzungsmöglichkeiten mit. „Tragisch“ ist der Anreiz für all diese anderen Bauern, dieser Expansionslogik zu folgen und damit unweigerlich den Keim der Übernutzung zu legen. Das ist kein moralisch anzuprangerndes Gruppenverhalten, sondern jeweils rationalen Überlegungen geschuldet. Der Ökonomen Alfred E. Kahn nannte einen Essay „Die Tyrannei der kleinen Entscheidungen“ und beschrieb darin eine Situation, in der lauter vernünftige, in Wichtigkeit und Zeithorizont unterschiedliche Einzelentscheidungen kumulativ zu einem Ergebnis führen, das weder optimal noch erwünscht ist. Das ist das große Problem der Allmende: Jeder nutzt sie ökonomischer Rationalität folgend immer stärker und am Ende kommt ihre sinnwidrige, irrationale Übernutzung, ja Zerstörung heraus.

Die „Tragik der Allmende“ beschreibt also das Problem begrenzter Ressourcen, die zugleich frei verfügbar sind. Um ihr beizukommen – dafür gibt es drei Lösungen: Aufklärung, Appelle an „soziale Gefühle“ maßzuhalten, Privatisierung und öffentliches Management.

Maßhalteappelle erweisen sich nicht gänzlich als zwecklos, aber in ihrer Wirkung erheblich begrenzt. Es gibt Menschen, die in ihrem (ökonomischen) Handeln sehr darauf bedacht sind, die Folgen ihres Vorgehens auf die Menschheit und damit auf sich selbst sowie das Ökosystem zu berücksichtigen. Doch jede Politik, die auf solche Eigenverantwortung setzt, ist blauäugig. Wir dürfen nur begrenzt mit der sittlichen Vernunft des Menschen rechnen. Wie sagt Upton Sinclair so schön: „Es ist schwierig, jemanden etwas verstehen zu machen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen.“

Bleiben Privatisierung und öffentliches Management: Rein theoretisch könnte durch eine Privatisierung der Allmende deren Besitzer die Überausbeutung vermeiden; er oder sie selbst nutzte(n) oder vergäbe(n) Nutzungsrechte, die die Regeneration der Ressourcen über ihre knappste Nutzung sicherstellten. Damit stimmten individuelle und soziale sowie ökologische Nutzungsrationalität überein: Obige Rationalitätsfalle wäre beseitigt durch (definierte) Eigentumsrechte an den natürlichen Ressourcen. Praktisch jedoch würde die privatisierte Allmende zu einem Markt. Für den freien Markt galt eine lange Periode lang, dass er für alle Marktteilnehmer den größten Vorteil brächte. Diese Ansicht ist jedoch seit geraumer Zeit schon passé, da widerlegt; und namentlich die Finanzkrise öffnete wohl dem Letzten die Augen: Sie führte unter anderem dazu, dass sich private Finanzunternehmen in Teilen von Kreditgeschäften ab- und dem Aufkauf von Allmendegütern, natürlichen Ressourcen wie Wasser, Infrastrukturen, aber auch Inseln und sogar Ausbildungseinrichtungen und vieles mehr zuwandten. Opfer sind die von der Austeritätspolitik von Weltbank und Weltwährungsfonds (IMF) besonders betroffenen Staaten, die ihre Ressourcen zu besonders ungünstigen Konditionen verkaufen müssen. Daraus können die Finanzinvestoren hohe permanente Renten beziehen; eine moderne Form des Allmende-Raubs. Die Privatisierung ist zwar aus institutioneller Sicht eine einfache Lösung, aber doch – wie gezeigt – desgleichen eine prekäre, mit erheblichen Einbußen für die (ursprünglichen) Allmende-Besitzer. Und damit letztendlich untauglich, Natur und Menschheit vor dem ökologischen Ruin zu bewahren.

Was unmöglich zu privatisieren ist – die Luft mit ihrer schützenden Ozonschicht und den Satellitenumlaufbahnen, die Weiten der Ozeane und anderes mehr –, das muss man managen. Management bedeutet, dass ein Staat Regeln aufstellt; Nutzungsgebühren einführt, vielleicht gibt es zeitliche Nutzungsbeschränkungen, vielleicht wird nach politischen und sozialen Kriterien entschieden, wer den Vorzug bei der Nutzung der Ressourcen erhält. Zunehmend führt das zu gesetzlichen Normen, zu Verboten. Es wird nicht anders gehen – insofern sind die Grünen mit ihren „Verboten“ doch auf der Höhe der Zeit; ganz im Gegensatz zu ihren konservativ-liberalen Verächtern. Schon der im 18. Jahrhundert wirkende Philosoph Johann August Eberhard sah sehr klar: „Untersagt wird nur, was bisher erlaubt gewesen; verbothen auch das, was nie erlaubt gewesen ist. Daher kann durch positive Gesetze etwas untersagt werden, was uns die Naturgesetze zu unterlassen verpflichten, das untersagen sie nicht bloſs, das verbiethen sie: denn es kann nie erlaubt gewesen seyn.“

„Es kann nie erlaubt gewesen sein“ – das scheinbar vernünftige Konzept der Allmende war bei näherer Betrachtung alles andere als vernünftig: Es war zu erwarten, dass jeder Bauer so viele Kühe wie möglich zum Weiden auf diese Wiese schickte. Das funktionierte, solange die Anzahl Kühe eine bestimmte Zahl nicht überschritt. Als rationaler Mensch versucht jeder Bauer, einen zusätzlichen Nutzen durch eine Kuh mehr zu erlangen; also +1. Der Nachteil der möglichen Überweidung durch die zusätzliche Kuh wird jedoch von allen Bauern getragen. Für jeden der anderen Bauern beträgt der damit verbundene Verlust jedoch nur einen Bruchteil von -1. Die individuelle Rationalität jedes neu hinzukommenden Nutzers lässt also die Ertragseinbußen anderer Nutzer erst einmal quasi unberücksichtigt erscheinen. Deshalb sind diese letztendlich gesamtgesellschaftlichen Einbußen so schlecht wahrzunehmen; dem Einzelnen fallen sie lange Zeit gar nicht auf. Deshalb auch die weit verbreitete Leugnung der Dringlichkeit, dem Klimawandel vorzubeugen, die Artenvielfalt zu schützen oder die natürlichen Medien sauber zu halten.

Hinzu kommt, dass uns die Evolution nicht auf das ökologische Dilemma vorbereitet hat. Während fast der gesamten Menschheitsgeschichte standen den Zeitgenossen unbeschränkte Ressourcen zur Verfügung. Bis vor 10.000 Jahren lebten Menschen in Kleingruppen von circa 50 Individuen; jeder kannte jeden. War jemand auf seinen alleinigen Vorteil bedacht und nützte die Gemeinschaft aus, wurde das sofort registriert mit der schlimmsten aller Strafen belegt: Ausschluss aus der Gruppe, was den Tod bedeutete; in der späteren Entwicklung kam es mindestens zur Rufschädigung. Im Kleinen funktioniert die Sanktion durch Scham noch heute; siehe „Flugscham“. Doch in unserer anonymen Gesellschaft spielt sie kaum eine Rolle mehr. Dem ist entgegenzuhalten, dass wir Menschen, im Gegensatz zu anderen Spezies, in der Lage sind, unser Verhalten zu reflektieren. Wir können das, was wir tun, hinterfragen. Wir haben die Wahl, es besser zu machen. Verbote gehören dazu!