Diskutiert man gegenwärtig in Deutschland über Preise und Inflationsraten, so sieht man sich sofort mit zwei Problemen konfrontiert: Erstens mit der Tatsache, dass die offiziell ausgewiesenen Daten häufig nicht mit der Wahrnehmung in der Bevölkerung übereinstimmen. Zweitens mit dem Faktum, dass sich die Preisentwicklung seit Jahresbeginn spürbar beschleunigt hat, was so nicht erwartet worden ist und daher einer Erklärung bedarf.
Ersteres Phänomen wird gewöhnlich als Abweichung der „gefühlten“ von der „gemessenen“ Inflation beschrieben. Es findet seine Erklärung darin, dass der der Messung des Preisniveaus zugrundeliegende Warenkorb nicht mit der tatsächlichen Verbrauchsstruktur vieler Menschen übereinstimmt. In der Regel ist der statistisch ausgewiesene Anstieg des Preisniveaus geringer als die gefühlte Teuerungsrate. Dies betrifft in Deutschland sowohl den üblicherweise verwendeten Verbraucherpreisindex (VPI) als auch den Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), der auf europäischer Ebene berechnet wird. Im Jahr 2020 betrug der VPI nur 0,51 Prozent und der HVPI sogar nur 0,38 Prozent, während der Anstieg des Preisniveaus dem Gefühl nach mindestens bei zwei Prozent lag.
Seit Jahresbeginn 2021 zogen die Preise in Deutschland kräftig an: Im Januar betrug der VPI bereits 1,05 Prozent, im Februar waren es 1,33 Prozent und im März 1,70 Prozent. Der HVPI wird für die ersten drei Monate mit 1,62 Prozent, 1,61 Prozent und 2,0 Prozent angegeben. Für den starken Anstieg waren teilweise Sonderfaktoren wie die Zurücknahme der temporären Absenkung der Mehrwertsteuer und die Einführung von steuerlichen Maßnahmen im Rahmen des Klimapakts ausschlaggebend, teilweise lagen ihm aber auch „echte“ Kostensteigerungen zugrunde. So bei Bauleistungen, Lebensmitteln und bestimmten Dienstleistungen.
Obwohl die zuletzt veröffentlichten Daten eine Zunahme der Preisdynamik signalisieren, dürfte diese noch um einiges höher liegen, würde man bei ihrer Berechnung die Wohnkosten angemessen berücksichtigen. Denn diese sind im zurückliegenden Jahrzehnt geradezu explodiert. Da sie jedoch nur partiell und unterproportional in die Berechnung des Preisindex eingehen, wirkt sich dies auf die offiziell ermittelte Inflationsrate kaum aus. So gehen zum Beispiel die Wohnungsmieten in den HVPI-Warenkorb nur mit einer Gewichtung von gerade einmal 6,5 Prozent ein. Das bedeutet: Nur 6,5 Prozent des Index bilden überhaupt unmittelbar Wohnkosten ab. Dabei machen Wohnausgaben (ohne Nebenkosten) im Schnitt rund 17 Prozent der Gesamtausgaben von Europas Haushalten aus. Entscheidend für diese Differenz ist, dass als Wohnkosten nur Mieten erfasst werden, nicht aber auch die Kosten für den Erwerb und den Unterhalt von selbstgenutztem Wohneigentum. Die fehlende Berücksichtigung dieser Kosten verfälscht das Bild ganz erheblich, zumal gerade hier die höchsten Kostensteigerungen zu verzeichnen sind. So stiegen in 127 deutschen Städten die Preise für Wohnimmobilien innerhalb der letzten zehn Jahre um mehr als 100 Prozent, in sieben Großstädten sogar um 125 Prozent. Der Preisindex für selbstgenutztes Wohneigentum erhöhte sich seit 2010 insgesamt um rund 70 Prozent. Ebenso der Häuserpreisindex. Ökonomen sprechen von einer regelrechten Wohnkosteninflation, welche sowohl die Kaufpreise für Immobilien als auch die Mieten erfasst. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung keineswegs gebremst, sondern eher noch beschleunigt. So stiegen die Preise für Wohnimmobilien im vergangenen Jahr in Deutschland im Schnitt um fast zehn Prozent. Und mit einem Anstieg von 3,25 Prozent lagen auch die Neuvertragsmieten in deutschen Städten 2020 signifikant höher als die Preisentwicklung insgesamt. Dieser Trend betrifft nicht mehr nur Großstädte und Ballungsräume, sondern hat inzwischen auch andere Regionen erfasst. Durch den Anstieg der Kaufpreise für Wohneigentum und durch Mieterhöhungen erhöhten sich in den zurückliegenden Jahren für viele Haushalte die Wohnkosten überdurchschnittlich. In der Preisstatistik fand dies jedoch keinen adäquaten Niederschlag. Warum nicht?
Erstens, weil wie oben angeführt, gegenwärtig nur ein Teil der Wohnkosten überhaupt in den Warenkorb eingeht. Zweitens aber auch deshalb, weil sich der größte Teil der Bestandsmieten nur langsam und zeitversetzt den Preisen bei Neuvermietungen anpasst. Während diese jährlich um bis zu zehn Prozent anzogen, verzeichneten jene im EU-Durchschnitt seit 2015 nur einen Anstieg von rund sieben Prozent. Da der überproportionale Anstieg der Mieten nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Bevölkerung trifft, schlägt er sich nur minimal in der Inflationsrate nieder. Ähnliches gilt für die Wohnungs- und Häuserpreise, die zwar stark steigen, wovon aktuell aber nur die Käufer am Immobilienmarkt betroffen sind. Für all jene, die keine Immobilie erwerben wollen, ist der Preisanstieg ohne Bedeutung. Und für die, die bereits eine Immobilie besitzen, erhöht sich dadurch deren Marktwert und damit ihre Vermögensposition. Da in Deutschland fast die Hälfte aller privaten Haushalte Wohneigentum besitzt, in der EU sind es sogar 70 Prozent, fällt der Anteil der Mietwohnkosten an den Gesamtausgaben der Haushalte relativ gering aus. Würde man neben den Mieten auch die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum in die Berechnung mit einbeziehen, so würde das Gewicht der Wohnkosten im Warenkorb steigen. Dies hätte Auswirkungen auf die Inflationsrate, die dadurch nicht nur höher ausfallen, sondern auch den veränderten Bedingungen besser entsprechen würde, als dies derzeit der Fall ist.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Ursachen für die überproportionale Preisentwicklung im Immobiliensektor. Neben der demografisch bedingten steigenden Nachfrage nach Wohnraum und der Verunsicherung vieler Menschen über die Entwicklung der Lebenshaltungskosten spielt hier auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Rolle. Seit mehr als einem Jahrzehnt stabilisiert die EZB mit ihrer Niedrig- und Negativzinspolitik die Wirtschaft in der Eurozone und kompensiert so deren politische Defizite. Auch in der Coronakrise bewahrte sie mit ihrem Eingreifen die Volkswirtschaften der Europäischen Union vor einem Finanzkollaps. Zu den unvermeidlichen Nebenwirkungen der expansiven Geldpolitik gehören jedoch Preissteigerungen bei Vermögenswerten, insbesondere bei Immobilien, Edelmetallen und Aktien. Indem diese jedoch nur unterproportional in die Berechnung des Preisniveaus eingehen, kommt es systematisch zu einem zu niedrigen Ausweis der Preisdynamik und folglich zu einer Fehlsteuerung der Geldpolitik. Denn die EZB orientiert sich in ihrem Handeln nicht zuletzt an der Entwicklung des Preisniveaus. Liegt die Inflationsrate signifikant unter zwei Prozent, so öffnet sie die Schleusen für die Geldemission. Dadurch aber forciert sie den Preisanstieg im Immobiliensektor, ohne dass sich dies adäquat im Preisindex niederschlägt. Dies hat zur Folge, dass die Wohnkosten unablässig steigen, die offizielle Inflationsrate aber verhältnismäßig niedrig bleibt oder sogar ein negatives Vorzeichen aufweist: ein fataler Circulus vitiosus. Dieser ließe sich durchbrechen, wenn die Ausgaben, die laufenden und die einmaligen, für sämtliche Arten von Wohneigentum in einer Inflationsdefinition berücksichtigt würden und sich die Gewichtung der Wohnkosten im Warenkorb an den tatsächlichen Ausgaben der privaten Haushalte orientiert würde. Aktuell unterschätzt die EZB die tatsächliche Teuerung, also den realen Kaufkraftverlust der Menschen auf Grund steigender Wohnkosten. Damit kalkuliert sie die Wirkung der eigenen expansiven Geldpolitik falsch und schürt zudem Unverständnis für ihre Politik in der Bevölkerung. Begleitet von Urteilen wie zuletzt dem des Bundesverfassungsgerichts zur Mietpreisbremse in Berlin führt dies zu falschen Signalen an die Vermieter und die Wohnungswirtschaft, was die finanzielle Belastungsgrenze der Mieter und der Käufer von selbstgenutztem Wohneigentum anbetrifft.
Der Ausweis höherer Wohnkosten im Budget der privaten Haushalte, eine stärkere Gewichtung dieser im Warenkorb und die Veröffentlichung einer höheren Inflationsrate wäre ein Beitrag zu mehr Transparenz und Realismus in der Wirtschaftspolitik.
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