24. Jahrgang | Nummer 9 | 26. April 2021

Erlesenes – Waldkirch, Kitsch und Hermann Sinsheimer

von Wolfgang Brauer

Tiefenbohrungen sind in der Geschichte häufig aufschlussreicher als die „großen Erzählungen“. Zeitgeschichtliche Regionalgeschichtsschreibung hat aber immer damit zu kämpfen, dass es langlebige Zeitzeugen gibt, die sich getroffen fühlen oder dass Familien gegen die „Verunglimpfung“ des Andenkens ihrer Ahnen vorgehen könnten. Die Geschichte des Nationalsozialismus aber ist nicht begreifbar, wenn sie sich nicht auch den konkreten Lebensumständen der Menschen „vor Ort“ stellt. Wolfram Wette hat gemeinsam mit 26 anderen Autorinnen und Autoren ein akribisch recherchiertes Sammelwerk über Waldkirch im Breisgau in der Zeit des Nationalsozialismus vorgelegt. Ein Ort, an dem nichts Spektakuläres geschah: „Hier war doch nichts!“ Dennoch spiegelte sich auch in der seinerzeitigen Kleinstadt der Ungeist der Zeit. So meinen viele, Bücherverbrennungen habe es nur in Universitätsstädten gegeben. Mitnichten. 1933 kam es in Waldkirch anlässlich der „Sonnwendfeier“ zu einem solchen Autodafé. Im Städtchen war eine vergleichsweise große SS-Einheit ansässig. SS-Standartenführer Karl Jäger, verantwortlich allein zwischen September und Oktober 1941 für den Tod von 138.272 – so seine eigene akribische Auflistung – Juden, Roma behinderten Menschen in Litauen, stammte aus Waldkirch. In Waldkirch gab es Widerstand, aber die übergroße Zahl der Bewohner der Stadt trug das Regime bis zum bitteren Ende mit. Die „Aufarbeitung“ war entsprechend langwierig. 1957 trat ein gewisser Max Kellmayer zu den ersten Bürgermeister-Direktwahlen der Stadt an und konnte respektable 35,2 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Kellmayer war von 1933 bis 1945 NSDAP-Bürgermeister der Stadt. In den ersten Nachkriegsjahren waren zwei Verwaltungslehrlinge beauftragt gewesen, die städtischen Akten zu „entnazifizieren“. Ich halte es für einen Verdienst des Bandes, das jahrzehntelange Ringen um die historische Wahrheit zu dokumentieren und auf noch vorhandene Fehlstellen aufmerksam zu machen. Dass inzwischen auch in Waldkirch ein Paradigmenwechsel erfolgte, belegt zum Beispiel das Curriculum des Geschwister-Scholl-Gymnasiums. Jede Schülerin und jeder Schüler muss „sowohl von dem Täter Karl Jäger als auch dem widerständigen Soldaten Heinz Drössel gehört haben“ (W. Wette). Der 2008 verstorbene Drossel wurde 2000 als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.

Ein Buch, das beispielgebend wirken sollte.

Wolfram Wette (Hrsg.): „Hier war doch nichts!“, Waldkirch im Nationalsozialismus, Donat Verlag, Bremen 2020, 528 Seiten, 29,80 Euro.

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1935 veröffentlicht Heinrich Mann seinen flammenden Essay „Der Haß“. In einer der den Band beschließenden „Szenen aus dem Nazileben“ lässt er einen gewissen Sinsheimer vom Berliner Tageblatt dem Dr. Goebbels förmlich in den Hintern kriechen: „Unsere Literatur macht einen Höhenflug seit Ihrem Auftreten. Wer das nicht einsieht, gehört glatt ins Konzentrationslager.“ Und über einen der „geistigen Führer der Marxisten“ meint er zu eben jenem Goebbels: „Hätten Sie ein Wort gesagt, den würde ich Ihnen in die Hände gespielt haben.“ „Der“ ist Mann selbst, Sinsheimer sein langjähriger Freund, der Journalist Hermann Sinsheimer. Ursache des Bruches zwischen den beiden ist ein schlussendlich wohl nicht mehr aufzuklärendes Missverständnis, in das Nelly Kröger, die Lebensgefährtin Heinrich Manns, verwickelt war. Das Blättchen hat sich dieser Affäre mehrfach zugewendet. Jetzt erschien bei Quintus der dritte Band der Sinsheimer-Werkausgabe. Er enthält eine umfangreiche Briefauswahl sowie Sinsheimers Theater- und Filmkritiken. Auch hier spielt die zerbrochene Freundschaft der beiden Exilanten immer wieder eine Rolle. Bei der Lektüre der Briefe wird spürbar: Da war nichts mehr zu kitten. Noch im November 1937 beklagt sich Sinsheimer gegenüber Oskar Maurus Fontana darüber, „wie schmählich sich unser gemeinsamer Freund H.M. an mir vergangen hat“. Einen Vermittlungsversuch Thomas Manns lehnt er ab. Allerdings ist er auch empört darüber, dass nur eine einzige englische Zeitung in einer Dreizeilennotiz über Manns Ableben informierte. Viele dieser Briefe vermitteln einen sehr intimen Einblick in das deutsche Exil in England. Aufschlussreich sind Sinsheimers Berichte an Ehefrau Christobel über seine Auftritte in Kriegsgefangenen-Camps. Weshalb er es ablehnte, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzukommen, wird in den Briefen überdeutlich. Die Herausgeber sortierten sie leider nach Adressaten. Eine chronologische Anordnung wäre aussagekräftiger.

Interessant auch die Zusammenstellung der Theater- und Filmkritiken. „Ein Dramatiker ist gestern Abend auf der Bühne der Kammerspiele angelangt“, bejubelt Sinsheimer 1922 die Münchener Uraufführung von Brechts erstem auf die Bühne gelangten Theaterstück „Trommeln in der Nacht“. Und angesichts des offenen Naziterrors nach dem Reichstagsbrand kann man seine Besprechung der Reinhardtschen Inszenierung des „Großen Welttheaters“ von Hugo von Hofmannsthal am Deutschen Theater in Berlin (2. März 1933 im Berliner Tageblatt) nur als mutig bezeichnen. Dasselbe gilt für den großen Geburtstagsglückwunsch zu Jakob Wassermanns 60. Geburtstag. Und noch am 8. September gratuliert er in derselben Zeitung Max Reinhardt zum 60. Geburtstag – als dem genialsten Regisseur, „den Berlin oder Deutschland je gehabt hat“. Reinhardt hatte zu diesem Zeitpunkt dem braunen Deutschland bereits Valet gesagt.

Schwieriger ist die Auswahl des Bandes in Sachen Kulturpolitik. Sinsheimers Attacke auf den „Dr. Goes“ (Goebbels – W.Br.) vom April 1931 ist immerhin aufgenommen worden. Deborah Vietor-Engländer klassifiziert im Vorwort den Artikel über Hanns Johsts vermeintliche Intendantenbefähigung vom 4. Februar 1933 als stillen Akt des Widerstandes. Das kann man machen, man kann ihn aber auch als misslungenen Versuch der Anschleimerei an die neuen Machthaber lesen. Sachlich irrte sich Sinsheimer übrigens. Johst wurde zwar nicht Intendant des Schauspielhauses, Heinz Tietjen setzte ihn aber als Chefdramaturg ein. Und Johst „säuberte“ an der Seite des Intendanten Franz Ulbrich das Haus konsequent vom Personal und dem Geist der „Systemzeit“. In diesem Zusammenhang ist mir unverständlich, weshalb die Herausgeber den Tageblatt-Artikel über den Goebbels-Vortrag zur Filmkunst vom 28. März 1933 unterschlagen. Ein Feigenblatt durch Verschweigen hat Sinsheimer nicht nötig. Auch die peinlichen Fakten gehören auf den Tisch. Nur so können Nachgeborene zum Verstehen und einem abgewogenen Urteil finden.

Insgesamt halte ich die dreibändige Sinsheimer-Ausgabe des Quintus-Verlages für eine mutige und verdienstvolle verlegerische Tat. Chapeau!

Hermann Sinsheimer: Was ich lebte, was ich sah. Briefe und Theaterkritiken. Herausgegeben von Erik und Gabriele Giersberg (Hermann Sinsheimer: Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Deborah Vietor-Engländer, Band drei), Quintus, Berlin 2020, 432 Seiten, 25,00 Euro.

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Abschließend sei auf ein bereits 2019 erschienenes Buch der Salzburger Psychoanalytikerin Ruth Mätzler hingewiesen. Mätzler befasst sich mit der überwältigenden Rolle, die der Kitsch im Alltagsleben unserer Gesellschaft eingenommen hat. Damit sind mitnichten die skurrilen Gartenzwerge oder Omas liebenswert-schrullige Häkeldeckchen gemeint. Die Autorin greift dorthin, wo es weh tut. Sie analysiert die über bloße NS-Verharmlosung weit hinausgehende Verklärungspraxis im Hirschbiegel-Eichinger Film „Der Untergang“ und stellt fest, dass sich hier durch eine subtile sentimentale Inszenierung die Täter-Opfer-Relation vollkommen umgekehrt hat: „Aus der Judenvernichtung wird eine ‚Deutschenvernichtung‘.“ Mätzler unterzieht die Praxis von Protagonisten gewisser Hilforganisationen einer kritischen psychoanalytischen Betrachtung. Sie setzt sich mit Okkultismus und esoterischen Heilungsversprechern auseinander und deckt deren Affinitäten zu totalitären Ideologien auf. Es scheint beinahe, als habe sie vor zwei Jahren geahnt, was sich 2021 einmal auf deutschen und österreichischen Straßen abspielen wird. Die Autorin deckt den nekrophilen Kitsch im Werk von Michel Houellebecq und H. P. Lovecraft auf, sie untersucht die Kitschträchtigkeit so hochgejubelter Kunstgötter wie Jeff Koons. Und sie schreibt in scheinbar ohnmächtiger Verzweiflung gegen die allgegenwärtigen kitschig-perversen Politik-Inszenierungen an. Ihr Fazit ist eindeutig: „Der Kitsch verleugnet die Realität, beschneidet damit unsere Erfahrungsmöglichkeiten und lässt unseren Horizont auf die Größe einer Kinoleinwand schrumpfen. Seine Kehrseite ist die Enttäuschung, seine Sprache die Lüge, und in den Falten seiner opulenten Gewänder nisten nicht selten Hass und Ressentiments.“ Kitsch sei alles andere als harmlos.

Dem ist nur wenig hinzuzufügen. Danke, Ruth Mätzler!

Ruth Mätzler: Kitsch und Perversion. Was sich hinter der Fassade sentimentaler Inszenierungen verbirgt, müry salzmann, Salzburg – Wien 2019, 220 Seiten, 28,00 Euro.