Schon zum US-Unabhängigkeitstag am 4. Juli will US-Präsident Joe Biden jetzt die letzten Truppen aus Afghanistan abgezogen haben. Ursprünglich sollte das zum 11. September geschehen. Doch offenbar ist Bidens Beratern aufgefallen, dass das symbolisch ambivalent wäre: Ein Rückzug ausgerechnet zum 20. Jahrestag der al-Qaida-Anschläge in New York und Washington sähe doch eher wie eine Niederlage aus. Also gab es die dritte Terminanpassung binnen weniger Monate.
Zuletzt hatten die USA nach eigenen Angaben noch 2500 Soldaten in Afghanistan. Dazu kommen, wie Mitte März die New York Times enthüllte, weitere 1000 geheime Angehörige von Spezialeinheiten, die zum Teil der CIA unterstellt seien, sowie – nach letzten Angaben – etwa 7500 Militärangehörige weiterer NATO-Staaten und anderer US-Verbündeter. Darunter bis zu 1300 Bundeswehrsoldaten. Eine genaue Zahl, wie viele sich wirklich in Afghanistan aufhalten, gibt die Bundesregierung offiziell nicht bekannt. Abgezogen werden müssen laut separatem US-Taliban-Abkommen vom Februar 2020 auch die etwa 13.500 ausländischen privaten Sicherheitsdienstleister.
Während Afghanistans Präsident Aschraf Ghani versuchte, optimistisch zu klingen, und behauptete, die eigenen Streitkräfte seien auch allein in der Lage, das Land zu schützen, fielen inoffizielle Reaktionen in Kabul weitaus heftiger aus. Ein afghanischer Verhandler mit den Taliban bezeichnete Bidens Schritt als „das Verantwortungsloseste, was die USA ihren afghanischen Partnern antun konnten“. Der Kabuler Journalist Bilal Sarwary zitierte einen führenden afghanischen Terrorismusbekämpfer, der sagte, „Betrug ist das einzige Wort, das ich dafür verwenden kann.“
Die NATO-„Partner“, die sich von der Biden-Administration wieder mehr Konsultationen und Agieren auf Augenhöhe versprochen haben, können Washingtons Berg-und-Talbahn-Fahrt nur folgen und müssen nun erneut umplanen. Was das Bundeswehrkontingent anbetrifft, hatte das deutsche Verteidigungsministerium mit Mitte August als Abzugstermin gerechnet. Jetzt muss man doch schneller packen, denn logistisch ist man teilweise von den US-Truppen abhängig. Dass es bei diesem Bundeswehreinsatz schon lange nicht mehr um die Afghanen geht, macht auch der Kommentar der zuständigen Ministerin Kramp-Karrenbauer deutlich, „dass je kürzer die Verweildauer jetzt in Afghanistan ist, desto geringer möglicherweise auch die Gefährdung durch die Taliban“ .
Damit beginnt nach fast 20 Jahren das Endspiel der gescheiterten US-geführten Intervention des Westens in Afghanistan nach den Anschlägen des 11. September. Mit der Ankündigung, alle Truppen bedingungslos, wenn auch nicht, wie ursprünglich mit den Taliban vereinbart, zum 1. Mai abzuziehen, schließen die USA dieses Kapitel. Afghanistan überlassen sie sich selbst oder, genauer gesagt, den bewaffneten Fraktionen, von denen die Taliban nur eine sind. Die derzeitige Regierung in Kabul verfügt noch über etwa 350.000 Soldaten, Polizisten und Angehörige oft halbkrimineller Milizen – von denen viele weniger der Regierung, sondern ihren Fraktionschefs gegenüber loyal sind.
Aber dieses Endspiel bedeutet nicht das Ende für Afghanistan. Dort werden in einem neuen Kapitel die Karten, das heißt die Macht, jetzt neu verteilt – nur dass die USA und der Westen insgesamt darauf nicht mehr viel Einfluss haben werden.
Auch eine Verhandlungslösung ist damit nicht vom Tisch. Die Taliban haben zwar ihre Teilnahme an der von den USA angeregten Afghanistan-Friedenskonferenz abgesagt, die am 24. April Ende in Istanbul beginnen sollte. Auf zehn Tage Dauer veranschlagt, sollte dort ein Rahmenabkommen unterschrieben werden, das den Kurs zu einer neuen Regierung und damit einem Ende des seit 40 Jahren andauernden Krieges in dem zentralasiatischen Land absteckt. Die Idee dazu kam von der neuen Biden-Administration, die damit das Ende ihres militärischen US-Engagements beschleunigen wollte. Auch der Entwurf des Rahmenabkommens stammte aus Washingtoner Feder.
Taliban-Sprecher Muhammad Naim aber tweetete nur lakonisch: „So lange nicht alle ausländischen Streitkräfte völlig aus unserem Heimatland abgezogen sind, wird das Islamische Emirat“ – so die Selbstbezeichnung der Taliban – „an keiner Konferenz teilnehmen, die Beschlüsse über Afghanistan trifft.“ Deshalb wurde die Konferenz inzwischen offiziell auf die Zeit nach dem Fastenmonat Ramadan, der bis zum 12. Mai dauert, „verschoben“. Ob sie tatsächlich noch stattfinden wird ist unklar.
Generell schlossen die Taliban damit Gespräche aber nicht aus. Nur gaben sie mit ihrer Absage zu verstehen, dass es einen Friedensschluss und eine Machtteilung nur noch zu ihren Bedingungen und nach ihrem Zeitplan geben wird. Diese Position der Stärke entspringt ihrer militärischen Kontrolle über die Hälfte des Landesterritoriums sowie fast die Hälfte der Bevölkerung sowie ihrer politisch-diplomatischen Stärkung durch die Separatverhandlungen mit Washington. Die Frage ist nun, ob sie die innerafghanischen Gesprächen in Katars Hauptstadt Doha fortsetzen werden, die dort im September 2020 begonnen hatten, aber kaum vorangekommen waren, oder eventuell einen neuen Verhandlungsrahmen anstreben.
Viele Beobachter vermuten, dass die Taliban nach dem Truppenabzug einen militärischen Durchmarsch nach Kabul versuchen werden. William Maley, Afghanistan-Experte an Australiens Nationaluniversität in Canberra, erklärte den Friedensprozess für tot. Andrew Watkins, Analyst des renommierten Think Tanks International Crisis Group in Kabul, rechnet mit einer „ungebremsten Kampfsaison“, mit Taliban-Angriffen auf Provinzhauptstädte und die abziehenden ausländischen Truppen.
Aber es gibt auch Gründe, die dagegensprechen. Zum einen würde solches Vorgehen die Taliban sofort wieder international isolieren. Wenn sie aber das auch nach 20 Jahren westlichen Engagements immer noch extrem arme Land regieren wollen – allein oder zumindest zunächst in einer Art Koalition mit anderen Fraktionen –, brauchen sie die externen Zuschüsse, von denen das Land weiter abhängig sein wird. Deshalb ließen sich die Taliban in ihrem Separatabkommen mit den USA auch zusichern, dass Washington sich nach der Bildung einer neuen Regierung um weitere Unterstützung für das Land bemühen werde. Darüber hinaus werden die Taliban nicht in der Lage sein, die Streitkräfte der Regierung einfach aus der Arena zu fegen, zumindest so lange Washington nicht auch seine Militärhilfe einstellt. Deren Weiterführung hat Washington erst einmal zugesichert. Erst wenn diese erheblich reduziert würde, könnte eine finale Erosion der Regierung einsetzen.
Bei weiteren innerafghanischen Gesprächen hätten es die Taliban mit einer schwachen Regierung zu tun. Die ist von ethnisch untersetzten Fraktionsstreitigkeiten zerrissen und von Korruption und Selbstbereicherung geprägt, was verhindert, dass sie sich wirksam der Überwindung der Armut in der Bevölkerung widmet. Auch aufgrund serienmäßig manipulierter Wahlen fehlt ihr die Legitimität. Die US-Verhandlungen mit den Taliban über den Kopf von Präsident Aschraf Ghani hinweg sowie der angekündigte Truppenrückzug haben die Regierung weiter geschwächt. Zusätzlich steht Ghani auch innenpolitisch unter hohem Druck. Ein breites Spektrum vom weiter politisch ambitionierten Ex-Präsidenten Hamed Karsai bis zu den Warlords an der Spitze der Mudschahedinfraktionen wollen ihn stürzen und haben deshalb dem US-Vorhaben einer Interimsregierung zugestimmt, die Teil des US-Planes für Istanbul war.
Während letztlich nur Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den verschiedenen afghanischen Fraktionen den Krieg beenden können, deutet deren Zusammensetzung an, dass dies zugleich zu einem Abbau der zumindest ansatzweise existierenden Menschen- und Freiheitsrechte führen könnte. Die Afghanistan-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights, Watchm Patti Gossman, kommentiert sarkastisch, angesichts der Warlord-gesättigten afghanischen Teilnehmerlisten für Doha und Istanbul könne man gut auch gleich den Internationalen Strafgerichtshof hinzubitten.
Die Taliban machten gerade in den letzten Wochen wiederholt klar, was sie von demokratischen Verhältnissen halten. Auf ihrer Webseite schrieben sie, die Demokratie sei „keine unfehlbare Lösung für alle Probleme“, Afghanistan besäße ein „besseres Regierungsmodell“. Der frühere Sprecher der Taliban und Mitglied ihres Verhandlungsteams in Doha, Sabihullah Mudschahed, sagte, die Taliban bevorzugten weiterhin ein islamisches Emirat. Die Taliban stellten des Weiteren auch die für Istanbul von den USA vorgeschlagene 50:50-Machtteilung mit Kabul in Frage. Doch abgesehen davon besteht die jetzige Regierung selbst zu großen Teilen aus Islamisten, die sich ideologisch nicht sehr von den Taliban unterscheiden. Um sich mit an der Macht zu halten, könnten zumindest einige von ihnen direkt zu den Taliban umschwenken.
Scheitert aber eine innerafghanische Regelung und verringern USA und NATO ihre Militärhilfe für die Ghani-Regierung, könnten Teile der Regierungstruppen und Milizen zum vermeintlichen Sieger überlaufen und ein neuer Fraktionskrieg ausbrechen. Die jüngere Geschichte Afghanistans kennt Beispiele, dass das zu veränderten Koalitionen und schließlich einem Regimewechsel führen kann. Man erinnert sich: Als drei Jahre nach dem Ende der sowjetischen Besatzung Russlands Präsident Boris Jelzin die Wirtschafts- und Militärhilfe für den damaligen Präsidenten Nadschibullah einstellte, liefen dessen Armeeführer zu den Mudschahedin über. Einige der damaligen Akteure sind heute noch dabei.
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