24. Jahrgang | Nummer 6 | 15. März 2021

Kein Denkmal für Gorbatschow

von Klaus Joachim Herrmann

Er fühle sich in allem rehabilitiert, freute sich Michail Gorbatschow am Tag nach dem 90. Geburtstag. Seine Rolle bei der Beendigung des Kalten Krieges sei anerkannt und die Welt sicherer geworden. Er habe eine ganze Lawine Gratulationen erhalten. Persönliche Glückwünsche konnte der Vater von Perestroika und Glasnost am 2. März angesichts gesundheitlicher Probleme und der Covid-Pandemie in Moskau vornehmlich nur am Bildschirm entgegen nehmen.

Die Wertungen seines Lebenswerkes fielen gewohnt gegensätzlich aus – wie die Bilanzen seines Wirkens. Die anscheinend allmächtige KPdSU, der Gorbatschow als Generalsekretär vorstand, und die Weltmacht Sowjetunion, die er als erster und einziger Präsident zuletzt führte, gingen mit ihm im Jahre 1991 in die Geschichte ein. Spötter meinen, hätte er das Werk seiner Vorgänger auf deren Weise fortgesetzt, wäre er noch heute im Amte. Immerhin habe er sich als der Langlebigste aller Kremlchefs erwiesen.

Den frischen ND-Korrespondenten verblüffte einst bei der Ankunft 1988 mitten in Perestroika und Glasnost vor allem der kritische Umgang mit deren Stammvater in seiner Heimat durch die eigenen Landsleute. Nicht nur aus Berliner Sicht begeisterte Michail Gorbatschow als Hoffnungsträger. Er schien eine gründliche Erneuerung des sozialistischen Systems ins Werk zu setzen: voller Tatkraft, für einen Kremlchef erstaunlich jung und gesund, gewandt und wortreich, gesprächsbereit für Mitbürger daheim sowie Freund und sogar Feind in der Welt.

In ihrer Heimat wurde recht bald geargwöhnt, allzu viele Korrespondenten von DDR-Medien seien mit dem Perestroika-und Glasnost-Virus infiziert und gehörten abgelöst. Das politische Ende der dafür zuständigen Genossen und bald des ganzen Landes bewahrte davor. Die Feststellung des Moskauer Berichterstatters allerdings, der Untergang des Satelliten könne zum Menetekel für das Mutterschiff werden, stieß im gewesenen Zentralorgan noch auf Leserprotest.

Im Sowjetland war der führende Genosse nicht nur wegen seines „Suchoj Sakon“, des „trockenen Gesetzes“ zur Abschaffung sowjetischer Trunksucht, umstritten. So wie die Kampagne geführt worden sei, wäre es ein Fehler gewesen, räumte er später ein. Es habe besonders in Moskau auch wegen der Schließung anderer Geschäfte gewaltige Warteschlangen gegeben. „Die Ausnüchterung der Gesellschaft kann nicht über Nacht erfolgen. Es dauert Jahre“, meinte der auch als Mineralsekretär verspottete Gorbatschow. Der Volksmund gab freilich der wenig beliebten First Lady Raissa Maximowna als bevorzugte Ratgeberin ihres regierenden Gatten Schuld an dem Desaster.

Das Riesenland geriet immer schneller und tiefer in die Krise und entglitt jeder Führung. Dass dem Niedergang mit wohlgesetzten Worten nicht beizukommen sei, deuteten Gesprächspartner bitter mit der Bezeichnung „unser Schriftsteller“ an. In der Tat wurden die Reden und Aufsätze des Generalsekretärs zunehmend weitschweifiger, die Probleme hingegen nicht weniger. In einem Schatz von Zitaten, gesammelt im Internetportal lenta.ru, findet sich dieses: „Ich antworte Ihnen auf Gorbatschow-Art. Sie wissen, das ist komplizierter als eine einfache Antwort.“

In Moskau ließen sich Krise und Mangel vor Ort kennen lernen. Wir gingen mit einem „Einkaufsausweis“ und Lebensmittelmarken auf die Suche nach Nahrungs- und anderen notwendigen Mitteln. Ahnungslose Besucher erschreckten wir mit einem Besuch beim „Fleischer an der Ecke“. Da lagen meist nur ein paar Knochen in der Vitrine. Zu den ersten neuen Worten, die in den eigenen Sprachgebrauch eingingen, gehörten „krisis w stranje“ (Krise im Land), „bardak“ (Durcheinander) und „pustinja“ (Wüste). Das meinte die Regale in den Geschäften, Kaufhäusern und Chaos überall. Mit der Weitergabe einer für Städter ohne Gartenzugang vergleichsweise üppigen Zuckerration füllte sich im Gegenzug freilich der eigene Vorratsschrank mit selbstgemachten leckeren Konfitüren. Es ist offenbar nicht möglich, Russen einfach etwas zu schenken – es kommt gewöhnlich mehr zurück. Das gilt vielleicht besonders, wenn sie selbst wenig oder fast nichts haben.

Das Land habe sich unter Gorbatschow eher in die falsche Richtung entwickelt, meinen laut einer zum Geburtstag vorgelegten Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM 72 Prozent der Befragten. Sein Wirken habe mehr Schaden als Nutzen gebracht, wenn er auch das Wohl Russlands im Sinn gehabt habe, finden 51 Prozent. Die Perestroika, so sagen 64 Prozent, habe viel Schlechtes gebracht. Glasnost und Freiheit des Wortes danken ihm neun Prozent, den Beginn der Perestroika vier und die Entwicklung der internationalen Beziehungen drei Prozent. Das unabhängige Lewada-Institut erinnerte an seine Umfrage von 2017, wem die Moskauer ein Denkmal aufstellen würden. Gorbatschow ist darin nicht einmal mit einem Prozent zu finden, mag bestenfalls unter „sonstige“ fallen.

Unbeachtet bleibt bei solchen Erhebungen, in welchem Zustand er die Sowjetunion übernahm. Sie war nach Stalins Terrorherrschaft, Weltkrieg und Rüstungswettlauf offenbar am Ende. Trotz Raketenmacht und Kosmosflügen blieb sie wohl zu aller Zeit mit ihren Idealen und Verheißungen mehr Traum als Wirklichkeit. Ein blühendes Gemeinwesen mit leistungsfähiger Wirtschaft und weitreichenden individuellen Freiheiten hätte kaum von einem einzigen Manne, sei er auch ausgestattet mit der Allmacht als Generalsekretär und Präsident, zum Untergang gebracht werden können.

Doch überwiegen bis heute Urteile wie „Genie der Niederlage“ oder Klagen über ihn als eine Art Naturkatastrophe. Dabei ließe sich Gorbatschow auch sehen als – ganz sicher unvollkommener – Begleiter eines historischen Prozesses. Vielleicht ein Fingerzeig mag sein eigener bitterer Scherz sein: „Es gibt Leute, die meinen, Jelzin und Gorbatschow muss man an ein und demselben Baum aufhängen. Na los, wenn schon, dann an verschiedenen Ästen.“ Denn den Niedergang hat kaum er allein zu verantworten, und die „Wilden Neunziger“ als brutaler Übergang nach Chicago-Muster zum russischen Kapitalismus sahen mit Boris Jelzin schon seinen Widersacher, wenn nicht gar Todfeind, an der Spitze.

Als „Held unserer Zeit“ erscheint Gorbatschow immerhin der kremlkritischen Nowaja Gasjeta. Sie titelte zum Geburtstag ihres prominenten Anteilseigners: „Was hat er gezeigt? Dass der Staat human sein kann.“ Lesern wie dem Schauspieler Alexander Filippenko wird das Wort erteilt: „Sie gaben den Menschen die Möglichkeit, sich zu verwirklichen. Auch mir. Sie brachten Glück.“ Für den Mut zur Perestroika und Neuem Denken „nach 70 Jahren verdrehter Weltanschauungen und ideologischer Vorurteile“ dankt Michail Alexandrow, Dozent an der Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten. Leider habe sich eine Mehrheit als schlechte Schüler erwiesen. Ludmilla Rubinstein dankt kurz: „Sie gaben Hoffnung.“

Als Persönlichkeit von Weltrang würdigte Russlands Präsident Wladimir Putin den Jubilar etwas unverbindlich, der einen „bedeutenden Einfluss auf den Gang der nationalen und der Weltgeschichte ausgeübt“ habe. Eine Bildergalerie mit manch seltenen Aufnahmen des „ersten und einzigen Präsidenten der UdSSR, der bis heute eine der widersprüchlichsten Figuren der russischen Politik“ sei, bot die Wirtschaftszeitung Kommersant. Vom langjährigen KP-Chef Gennadi Sjuganow kam die Anschuldigung, die Epoche Gorbatschow sei die „Epoche des großen Verrats“ an allen Verbündeten und Freunden seiner Partei. Wadim Gorschenin klagte im Portal pravda.ru über den „Erfolglosen“. Die DDR sei der BRD ausgeliefert worden, auf deren Gebiet bis heute US-Militärbasen unterhalten würden. Ohne schriftliche Garantien für die eigene Sicherheit sei der Warschauer Vertrag aufgelöst worden.

Dem Moskowski Komsomolez erschien als größte Leistung Gorbatschows, dass die Sowjetmenschen die Freiheit erlangten und ein „vollwertiger Teil der europäischen Zivilisation“ geworden seien. Das wirkte leider wie aus der Zeit gefallen. In dem von Michail Sergejewitsch einst konzipierten „europäischen Haus“ wird Russland derzeit nicht einmal mehr eine Einliegerwohnung zugebilligt. Es reichte eben nicht, den Kalten Krieg für beendet zu erklären.

Aus Berlin kam erwartungsgemäß Anerkennung für Gorbatschows persönlichen Beitrag zur deutschen Einheit. Beispielhaft sei, wie der Jubilar einst die Gesellschaft geöffnet habe, lobte London. Washington befand, Gorbatschow habe die Welt sicherer gemacht. Das sei laut Präsident Joe Biden, auch heute eine Quelle der Inspiration. Die scheint nicht allzu tief zu wirken. So schmetterten die USA gemeinsam mit der EU noch am selben Tag weitere Sanktionen gegen Russland auf den Gabentisch. Da hätte Gorbatschow gern eine frühere Erkenntnis wiederholen können: „Auch Amerika braucht seine Perestroika.“