Von Heinrich Mann, der am 27. März vor 150 Jahren geboren wurde, wäre nicht mehr die Rede, hätte er seinem Vater gehorcht. Als ältester Sohn hätte er nach dessen Tod die „Johann Siegmund Mann Getreidehandlung. Kommissions- und Speditionsgeschäfte“ übernommen und es vielleicht sogar wie dieser zum Finanz- und Wirtschaftssenator gebracht. Oder wäre er wie Senator Buddenbrook aus dem Werk seines jüngeren Bruders in den besten Jahren verschieden? Oder wie Konsul West aus dem eigenen Roman „Eugénie oder Die Bürgerzeit“ zwar bankrott, aber durch die Unterstützung eines Bürgermeisters von altem Schrot und Korn einem erträglichen Alter entgegen gegangen? Oder eher vom Juni 1933 an dem bisherigen NS-Gauleiter und neuen Bürgermeister zu Diensten gewesen, nicht zum Schaden seiner Firma?
Statt all dessen wendet er den quicken Kopf, den starken Leistungswillen und die hanseatische Haltung, die ihm vom Vater bleiben, auf Tätigkeiten, die die Erinnerung an ihn lohnen. Er stellt das „zigeunerhafte Künstlerthum“ über alles. Die erste „Novellette“ schreibt er mit 14, es folgen Novellen, Schauspiele, zwanzig Romane. Die bekanntesten beginnen mit Sätzen, die im Schreiben nur noch entfaltet werden müssen. „Da er Raat hieß, nannte die ganze Schule ihn Unrat.“ „Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.“ „Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer.“ Die Wirklichkeit wird weit hinausgetrieben über ihre Maße, oft ins Satirische und Theatralische. Sprecher und Situationen wechseln rasant. Wer den Überblick über Personen und Verwicklungen nicht verlieren, wer die Brillanz der Charakterisierungskunst genießen will, erzeugt die dafür notwendige Verzögerung des Wahrnehmens am besten, indem er die Texte sich oder anderen vorliest. Das alles sind heutzutage keine umsatzfördernden Empfehlungen. Jedoch: Heinrich Mann ist einer der großen – und das heißt: bis heute lesenswerten – deutschen Schriftsteller.
Und er ist mehr. Er wirkt auf andere „steif, als hätte er einen Ladestock verschluckt“, ja wie ein „Eismeer“ – und lebt doch der „Fähigkeit, Freuden zu genießen“. Seinem Schulfreund schickt er nicht nur seitenlange Lektionen zur zeitgenössischen Literatur, sondern auch den Hinweis auf ein besonders reizvolles Bordell. Jemandem, den der „fortwährende Fleischgeruch“ in einem seiner Romane anwidert („zu viel, zu viel Schenkel, Brüste, Lende, Wade, Fleisch“), setzt er entgegen: „Auf der sinnlichen Wahrheit steht die menschliche und politische.“ Keine der Frauen, mit denen er sich verbindet, ist standesgemäß. Ein Vierteljahr nach der Flucht aus dem nazibeherrschten Berlin konstatiert ein Nahestehender an der Côte d’Azur, „daß zum mindesten seine psychische Gesundheit viel robuster ist als meine. Auch trinkt er abends seine halbe Flasche Rotwein, die er sehr liebt, danach zwei Cognacs, und morgens und nachmittags Kaffee“ – entsagungsvoller Zusatz: „was ich auch gern täte“. Nochmals zehn Jahre später, nun an der Pazifik-Küste, gehört zur Besichtigung seines Zeitalters: „Wer weiß noch, daß im Frankreich der Vorkriegszeit jede Tasse Kaffee von einer kleinen Karaffe Cognac begleitet war?“ Vor Augen kommen ihm Franzosen „bei einem Essen – diese Ausführlichkeit, diese Sorgfalt“, und als Überraschung am Schluss: „ein blumenbekränzter Topf Rebhuhnpastete, hausgemacht“. Da ist er „reich ohne viel Besitz, glücklich ohne atemlosen Anlaß“. Dieser Mann fühlt sich wohl in Grandhotels und kann ebenso gut an einem wackligen Tischchen im Schlafraum einer möblierten Zweizimmerwohnung schreiben, in der vier Kanarienvögel herumfliegen.
Mehr als ein Schriftsteller wird er auch, weil er die Freude an der Rebhuhnpastete nicht nur Auserwählten wünscht. Er wird ein großer deutscher Intellektueller. Mit 18 „riecht“ er, dass die Bürger seiner Vaterstadt einen merkantilen „Millionengestank“ verbreiten – und froh sind, „daß L. nur ein Theater besitzt“. Er flieht die Stadt, sobald er kann, und verachtet die Geldsäcke ein Leben lang. Für kurze Zeit treibt Empörung ihn, ebenso wie bis heute Andere, zu den Völkischen und Deutschnationalen. Auch „Jeder vom nationalen und sozialen Gewissen Geleitete wird Antisemit sein“, ist ein Satz dieses Autors gewesen. Bald aber sagt er, durchaus skeptisch zu den Aussichten, dass es darauf ankomme, „in vielen Anläufen ein jedesmal weniger verzerrtes Bild der Freiheit und Gerechtigkeit“ aufzustellen. Als der Schriftsteller Autorität gewonnen hat, sieht er sich verpflichtet, sie über den Literaturbetrieb hinaus zu nutzen. Über tausend Artikel und zehn weitere Bücher zeugen davon. „Die wahre Rolle des Intellektuellen war es immer, sich auf die Seite der verfolgten Wahrheiten und der grundlos leidenden Menschen zu stellen.“ Leitende Werte (nicht nur Worte) werden „Sittlichkeit“ und „Vernunft“, „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“.
Vor 1914 beobachtet er im Reichstag „das Wulstlächeln aller Schweine der Weltgeschichte“ bei den Konservativen und „massvolle kleine Bürger, die nichts wollen, als Kindern und Enkeln ein spiessiges Wohlleben verschaffen“, bei den Sozialdemokraten. Den Ersten Weltkrieg und die Machtübertragung an die Nazis verurteilt er so schnell und scharf wie kaum einer seiner Kollegen. Lange vor 1933 protestiert er gegen die Ermordung eines kommunistischen Studenten in Rumänien und schließt an: „Sind wir besser? Der Westen war einst das Maß für die Sittlichkeit, die anderswo wenigstens vorgetäuscht ward. Jetzt bemißt man nach ihm, wieviel vom Gegenteil erlaubt ist. Wir müssen uns ändern.“ Wie Kassandra die Trojaner mahnt er im März 1936: „Um keinen Krieg mit Hitler zu haben, muss die Welt ihm jetzt gleich in den Arm fallen; denn später geht es nicht mehr ohne Krieg. Später gäbe es keine Hilfe gegen die Katastrophe der europäischen Menschheit und ihrer Civilisation.“
In diesen Jahren versucht er vom kritischen zum konstruktiven Intellektuellen zu werden: Er leitet den Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront. Der aber bleibt ohne politische Organisation des Bürgertums, wird von der Führung der Exil-SPD boykottiert und zerbricht an der Verantwortungslosigkeit von Vertretern der KPD. Auch mit seinem publizistischen Engagement für „die einfache Vernunft“ scheitert er. Das deutsche Volk beschwört er zu einem Widerstand, den nur sehr wenige leisten. Die Sowjetunion erweist sich nicht als der „grösste Versuch der unbedingten Befreiung der Menschen“, für den er sie – „trotz dem Blut und ungeachtet eines notgedrungenen Despotismus“ – nimmt. Die Aufrufe zur Solidarität mit der Spanischen Republik verhindern nicht das Vorankommen der von „Hitlers Umtrieben“ unterstützten Putschisten. Frankreich schließt sich jener Appeasement-Politik gegenüber Deutschland an, über deren Zentrum es im Privatbrief heißt: „England ist durch und durch zum Kotzen.“
Seine weit überzogenen Äußerungen zur Kraft des Widerstands in Deutschland und sein fast unbegrenzter Kredit für die Sowjetunion selbst in ihrer stalinistischen Gestalt haben ihm einige Kritik schon von Gefährten und Kommentare über „Wunschbilder, Ausstattungsmängel, Träume, Unwissen, Verbohrtheit“ durch selbstsichere Spätergeborene eingetragen. Er seinerseits erklärt sich gelegentlich taktisch: Anfeuern und Würdigen der Widerständigen; Stärke vorgeben, um fremde Hilfe zu erlangen; die einzige antifaschistische Macht nehmen, wie sie ist. Darunter liegt eine so bescheidene wie arrogante Überzeugung: „Wer will nach wirklicher Erfahrung urteilen? Unsere eigene Anschauung ist eng begrenzt. Unsere Vernunft ist hingegen gemacht aus den unendlichen Erlebnissen unserer Vorgänger.“
Damit, dass auch diese Vernunft zerstört werden kann und wird, will er sich nicht abfinden. Eben aus dieser Weigerung gewinnt er seine Kraft. „Auch ich bin ein metaphysisches Tier“, schreibt er einem Gefährten, „und gerade mein völliges Vertrauen in den Gegenschlag der Vernunft ist mir Stütze.“ Als er Zolas Arbeit resümiert, bringt er sie auf einen Begriff, der ebenso ihn kennzeichnet: „erbitterter Idealismus“. Erbitterung über das, was geschieht. Aber es nicht als Realität behandeln: Es im Lichte dessen bewerten und bekämpfen, was sein sollte und schon erkannt, wenn auch nie verwirklicht worden ist. Er meint, auch über sich: „Auf alle Gemeinen wirkt der Geistbesessene im Grunde nur unernst und verrückt.“ Aber: „Den Idealismus leugnet nur ein Schuft.“
Ist dieser Mann, gegenüber den „Gemeinen“, eigentlich Aristokrat? Kurz nachdem er seinen siebenten Roman als „das hohe Lied der Demokratie“ bezeichnet hat, liest man: „Demokratie ist ein Volk von Herren.“ Nur meint das nicht, dass allein Herren – vor der Revolution: Hochwohlgeborene; für die Urväter des Liberalismus: Männer, deren Verstand durch Geld verbürgt ist – entscheiden sollen. „Herr“ ist, wer gelernt hat, „zu denken, sich selbst zu achten und über sich zu bestimmen“. Er ist überzeugt, dass, sobald alle wählen dürfen, das Gemeinwesen erst Bestand hat, wenn jeder einzelne „auf der hohen sittlichen Ebene ankommt, wo die beispielhaften Gestalten sich immer bewegt haben“. Nur „Führer dieses Geistes sollen gewählt werden“. Am weitesten, wenn auch nur „ein wenig“ vorangekommen zu einem solchen „Volk von immer menschlicherer Art“ scheinen ihm die Franzosen: Belehrt von ihren Schriftstellern des 18. und 19. Jahrhunderts sowie nach drei Revolutionen „heben sie den Kopf ein Wenig höher vom Boden auf“. Das deutsche Volk dagegen nennt er 1943 „ein Musterbeispiel versäumter Erziehung“.
„Unernst und verrückt“? Für den jüngeren Platon hat gerade der Wahn-Sinn den Dichter ausgezeichnet. Als er älter wird, scheint ihm allerdings der Staat gefährdet, wenn jemand zu weit über die Stränge schlägt. Ihm will er daher nur jene Dichtkunst zumuten, die Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervorbringt. Heinrich Mann wäre schon im alten Griechenland eher draußen geblieben. Als der heutige Präsident der hiesigen Republik sein Lob der Weimarer Verfassung zitiert, übergeht er, dem älteren Platon folgend, lieber die unmittelbar anschließenden kritischen Befunde zum Zustand der damaligen Republik.
Es lohnt, an Heinrich Mann zu erinnern – und also, ihn zu lesen.
Schlagwörter: Bürgertum, Demokratie, erbitterter Idealismus, Heinrich Mann, Vernunft, Wolfgang Klein