24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Systematisches Unverständnis

von Erhard Crome

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell machte in Moskau seinen Antrittsbesuch und traf mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow zusammen. Wie Borrell mitteilen ließ, wollte er auf eine Freilassung des sogenannten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny hinwirken und er kritisierte den Umgang mit Oppositionellen. In deutschen Medien war von „einem Scherbenhaufen“ im Ergebnis des Besuchs die Rede – Russland weist Diplomaten aus Deutschland, Polen und Schweden aus, weil sie an regierungsfeindlichen Kundgebungen in Moskau und Sankt Petersburg teilgenommen hatten. Dies wiederum hielt die Bundeskanzlerin „für ungerechtfertigt“. Sie glaubt, „dass das eine weitere Facette in dem ist, was ziemlich fernab von Rechtsstaatlichkeit im Augenblick gerade in Russland zu beobachten ist“. Außenminister Heiko Maas meinte, die Ausweisung „sei in keiner Weise gerechtfertigt“ und solle „nicht unbeantwortet bleiben“.

Niemand hat Frau Merkel nach ihrem Glauben gefragt. Und Herr Maas beweist wieder einmal seine Ahnungslosigkeit. In der „Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen“ wurden Privilegien und Immunitäten der Diplomaten im jeweiligen Empfangsstaat geregelt. In Artikel 41 heißt es, Personen, die solche Privilegien und Immunitäten genießen, sind „verpflichtet, die Gesetze und Bestimmungen des Empfangsstaates zu achten. Sie sind ferner verpflichtet, sich nicht in die inneren Angelegenheiten dieses Staates einzumischen.“ Die Teilnahme an regierungsfeindlichen Demonstrationen gehört definitiv nicht zur Tätigkeitsbeschreibung eines Diplomaten. Er kann zur persona non grata erklärt und ausgewiesen werden. Das kann laut Artikel 9 der Konvention „jederzeit ohne Angabe von Gründen“ erfolgen. Die Konvention ist übrigens auf der Webseite des Auswärtigen Amtes nachlesbar. Wenn Herr Maas es schon versäumte, die Rechtsabteilung seines Amtes zu fragen, bevor er Bekundungen von sich gibt, die der Rechtsstaatlichkeit zuwiderlaufen, hätte er dort nachschauen können.

Dies ist nur eine weitere Drehung an der Nawalny-Schraube. Offenbar will „der Westen“ endlich einen regime change herbeiführen, um Russland als eigenständigen Faktor der Weltpolitik auszuschalten und es westlicher Dominanz zu subordinieren. Zugleich würde dies – nimmt man die Erklärungen der in Washington wieder vorherrschenden Globalisten ernst – die Kräftekonstellation gegenüber China zu eigenen Gunsten verändern.

Dass die USA im Grunde seit 1990 eine Politik zur Ausschaltung Russlands betreiben, davor hatte Egon Bahr viele Jahre gewarnt und die Deutschen ermahnt, für gute Beziehungen zu Russland zu sorgen. Dem folgen die Merkel-Regierungen seit Jahren immer weniger. Die eigentliche Frage zum Verständnis der deutschen Außenpolitik ist, weshalb das so ist. Dass das Werte-Gerede nur vorgeschoben ist, wird klar, wenn man die Russland-Politik neben die gegenüber der Türkei oder Saudi-Arabien legt. Hier ständige Einmischungsversuche, dort ein paar papierne Floskeln.

Bei einer Annäherung an die Antwort auf die Frage nach den Ursachen der antirussischen Grundlinie der deutschen Außenpolitik sind drei Punkte zu unterscheiden. Der erste ist, dass die deutsche politische Klasse – wie die in anderen westlichen Staaten auch – tatsächlich noch immer glaubt, „der Westen“ habe 1990 gesiegt und die Geschichte sei nun zu ihrem Ende gekommen, das er, der Westen in seiner realexistierenden Gestalt, verkörpert. Hier ordnen sich die Werte-Beschwörungen in Bezug auf das Selbstverständnis der EU ebenso ein wie die Feindbilder der NATO.

Der zweite Punkt ist der Generationswechsel. Der israelische Journalist Nadav Eyal sprach von der Zeit des Kalten Krieges als einem „Zeitalter der Verantwortung“. Die Entwicklung der Atomwaffen gefährdet die menschliche Existenz. Doch „die Anführer der damaligen Welt […] hatten in ihrem Leben einen großen, zerstörerischen Krieg gesehen, manche sogar zwei, und verfügten deshalb über Ernst und Achtsamkeit. Ohne einen Deut naiven Pazifismus verfolgten sie bescheidene Ziele: Stabilität, internationale Institutionen, den Ausbruch des nächsten Krieges verhindern.“ Das gilt auch für die deutsch-russischen Beziehungen. Überliefert ist, dass Bundeskanzler Konrad Adenauer seinerzeit zum russischen Botschafter Andrej A. Smirnow sagte: „Herr Botschafter, solange wie Sie und ich etwas zu sagen haben, wird es keinen neuen Krieg zwischen Deutschland und Russland geben. Wie das die Generation nach uns sehen wird, da bin ich mir nicht sicher.“ Eyal betonte: Ein solches Zeitalter ist eine äußerst seltene Erscheinung und – es ist heute vorbei.

Der dritte Punkt ist die Geopolitik. Hier gibt es Kontinuitäten in längeren historischen Zeiträumen, derer sich die jeweiligen Akteure oft nicht bewusst sind und die über Kriege, Friedensschlüsse und Systemwechsel sowie unterschiedliche ideologische Drapierungen hinausreichen. Insofern kann man – vielleicht etwas provokativ – feststellen, dass die deutsche Position in Europa in etwa dem entspricht, was Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zu Beginn des Ersten Weltkriegs in seinem „Septemberprogramm“ 1914 umrissen hatte. Hier interessieren nicht die damaligen militärischen Zielprojektionen und Erwägungen, sondern die Vorstellungen von der wirtschaftlichen und politischen Nachkriegsordnung. Als das „allgemeine Ziel des Krieges“ wurde betont: „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muss Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.“ Zentral war die Idee eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbundes. Dazu hieß es: „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“ Im Einzelnen sollte ein Handelsvertrag abgeschlossen werden, „der Frankreich in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringt, es zu unserem Exportland macht und uns ermöglicht, den englischen Handel in Frankreich auszuschalten. Dieser Handelsvertrag muss uns finanzielle und industrielle Bewegungsfreiheit in Frankreich schaffen, so dass deutsche Unternehmungen nicht mehr anders als französische behandelt werden können.“ Belgien sollte „als Staat äußerlich bestehen“ bleiben und „wirtschaftlich zu einer deutschen Provinz werden“, Luxemburg sollte einverleibt und Holland, im Ersten Weltkrieg neutral und an den Kriegshandlungen nicht beteiligt, ebenfalls „in ein engeres Verhältnis“ zu Deutschland gebracht werden. „Dies engere Verhältnis müsste bei der Eigenart der Holländer von jedem Gefühl des Zwanges für sie frei sein, an dem Gang des holländischen Lebens nichts ändern […], Holland also äußerlich unabhängig belassen, innerlich aber in Abhängigkeit von uns bringen“.

Unter der Voraussetzung der deutsch-französischen Aussöhnung und der engen Zusammenarbeit beider Staaten einerseits und des Zusammenbruchs der Sowjetunion andererseits, wodurch Russland in der Tat weit nach Osten zurückgedrängt wurde, ferner der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses sind mit Schaffung und Entwicklung der Europäischen Union alle Ziele erreicht, die das deutsche Kapital und die deutsche Regierung im September 1914 im Blick hatten. Die EU ist territorial, politisch und wirtschaftlich sogar deutlich größer als den Strategen in Berlin damals vorschwebte. Großbritannien kommt im Septemberprogramm nicht vor. Insofern war dessen EU-Mitgliedschaft etwas Unvorhergesehenes und wurde mit dem Brexit „korrigiert“.

Der deutschen Saturiertheit steht der unerwartete geopolitische Wiederaufstieg Russlands in den vergangenen Jahren im Wege. Das systematische Unverständnis führte erneut zu der Vorstellung, Russland als Koloss auf tönernen Füßen in die Knie zwingen zu können. Diesmal sollen es die „westlichen Werte“ richten. Und Alexej Nawalny soll der Schlüssel sein. Vor 20 Jahren hatte man schon einmal gemeint, einen solchen Schlüssel in der Hand zu haben. Er hieß Michail Chodorkowski. Der ging dann auch ins Gefängnis und wurde schließlich ins Ausland, in die Bedeutungslosigkeit entlassen. Das hätten diejenigen wissen müssen, die kürzlich Nawalny nach Moskau zurückschickten. Oder bildeten sich die Beteiligten ein, er sei als Protegé des Westens unantastbar und Russland würde nach Jahren des Drucks, der ständigen „Sanktionen“ und der politischen Kritikasterei ausgerechnet jetzt vor dem Westen kuschen? Die Erfahrung, dass Russland auf Druck von außen mit Gegendruck reagiert, mussten schon Napoleon und Hitler machen.