24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Karl Lauterbach – oder:
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren

von Hannes Herbst

Die Kanzlerin und der Gesundheitsminister
müssen auch mal regieren.
Lauterbach ist immer auf Sendung.

Christoph Hickmann
DER SPIEGEL

Wenn ich ein Populist wäre,
dann würde ich sagen:
Die Pandemie ist jetzt vorbei!
Die Fußballstadien müssen geöffnet werden,
das Spiel kann wieder beginnen.

Karl Lauterbach
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Früher ging er einfach als Kauz durch. Seit Corona gilt er vielen – über 300.000 Fans folgen ihm auf Twitter – als Koryphäe. DIE ZEIT beförderte ihn zum „Cheferklärer der Pandemie“ und zum „zuvor nie gesehenen Zwitterwesen aus Wissenschaftler und Politiker“, die Berliner Zeitung unterstellte ihm gar, sich als „heimlichen Gesundheitsminister“ zu sehen; er selbst spricht bescheidener davon, „Vorbeugemediziner“ zu sein – Prof. Dr. med. Dr. sc. (Harvard) Karl Lauterbach, MdB-SPD seit 2005.

Mit 30 Auftritten in den Fernseh-Talkshows von Illner, Lanz, Plasberg, Will und wie sie sonst noch alle heißen schaffte er es im Jahre 2020 an die landesweite Spitze des entsprechenden Rankings. Ein Zeitgenosse vermutete „Geilheit nach Talkshows“.

Das Online-Pressearchiv Genios registrierte kürzlich (27. Januar 2021) deutschlandweit 105 (in Worten: einhundertundfünf) Zeitungsbeiträge an einem einzigen Tag, die in der einen oder anderen Form Bezug auf Lauterbach nahmen.

Bösen Zungen gilt er längst als die Corona-Sirene schlechthin – omnipräsent und oft noch einen Tick schriller als die meisten anderen Bescheidwisser. So im Oktober 2020, als er der Rheinischen Post sagte: „Die Unverletzbarkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein.“ Oder am 14. Januar 2021; da plädierte er bei Maybritt Illner für einen „extrem harten Lockdown“. Und ignorierte anschließend die Nachfrage einer anderen Teilnehmerin der Runde, wie in solchem Falle „wenigstens die existentiellen Grundbedürfnisse der Bürger sicherzustellen“ seien.

Peter Körte hat in der FAZ unlängst mal zusammengefasst, was der Karl in der Pandemie bisher noch so von sich gegeben hat: „Zu wenig Impfstoff wurde zu spät eingekauft, zu früh wurde gelockert, zu hoch angesetzt war die Inzidenz. Lauterbach war auch gegen Geisterspiele, für Luftfilter in Schulen, für Tests für Mallorca-Rückkehrer, gegen regionale Testpflicht und Beherbergungsverbot, mal gegen, mal für Schulschließung und für ein Sexkaufverbot auch nach der Pandemie – Hauptsache, die Forderungen sind so rigoros wie fern von möglicher Umsetzung.“

Wenn der Mann zur Hochform aufläuft, dann produziert er Schlagzeilen mit der Taktfrequenz einer Stalinorgel – so etwa über den jüngsten Jahreswechsel:

  • „Lauterbach schlägt verkürzte Sommerferien vor“ (26.12.2020).
  • „‚Wettlauf mit dem Virus‘: Lauterbach fordert mehr Impfstoff“ (27.12.2020).
  • „Lauterbach: Infektionsgrenzwert 50 ist zu lasch“ (30.12.2020).
  • „Lauterbach für Öffnung von Grundschulen und Kitas ab Mitte Januar“ (02.01.2021).
  • „Lauterbach: Haben die schlimmsten drei Monate der Pandemie vor uns“ (02.01.2021).
  • „Karl Lauterbach fordert unbefristeten Lockdown“ (04.01.2021).

Wer ist dieses gesundheitspolitische Perpetuum mobile? Das so „unerbittlich durch die kommunikative Endlosschleife“ (Körte) treibt und das beim Anblick von Mikrofonen und Fernsehkameras so zwanghaft nicht an sich halten kann, dass einem unwillkürlich mindestens der bekannte Pawlowsche Reflex einfällt, wenn nicht gar ADHS (das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom).

Lauterbach ist Jahrgang 1963 und Arbeiterkind, wie er gern betont, das den Aufstieg auch aus eigener Kraft geschafft habe. Sein durchaus beachtlicher akademischer Werdegang ist auf seiner Homepage minutiös nachzulesen. Anders als diverse Politikerkollegen sah er sich dabei mit Plagiatsvorwürfen zu keiner Zeit konfrontiert. Vielleicht hätte also ein ganz passabler Wissenschaftler aus ihm werden können …

Apropos Homepage: Dort beginnt sein „Politischer Werdegang“ mit dem Eintrag „Seit 2001 Mitglied der SPD“. Nicht erwähnt ist: Anlauf genommen hatte er zuvor in der CDU.

In den vergangenen 20 Jahren ist Lauterbach durch gesundheits- und sozialpolitisch Fragwürdiges wiederholt in den Fokus der Medien und damit einer breiteren Öffentlichkeit geraten. So hat DER SPIEGEL bereits 2004 berichtet, „dass er im Auftrag der Pharmaindustrie Medikamentenstudien durchführte. Über 800 000 Euro an Drittmitteln heimste er dafür allein im Jahr 2000 ein. So war er auch an einer Studie über den Fettsenker Lipobay beteiligt – jenem Medikament, das die Herstellerfirma Bayer wegen tödlicher Zwischenfälle im Jahr 2001 vom Markt nahm. Die frühen Hinweise darauf, dass Lipobay möglicherweise gefährlich war, nahm Lauterbach damals ebenso wenig wahr, wie es seine Auftraggeber taten.“

Lauterbach galt seinerzeit „als Einflüsterer der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt“ (SPD). Der lieferte er zusammen mit der Radiologischen Klinik der Kölner Universität eine Studie zur Qualität von Röntgenuntersuchungen in Nordrhein-Westfalen, über die ein Gutachter später urteilte: „Auf Grund der methodischen Mängel sind die quantitativen Aussagen der Studie wenig aussagekräftig.“ Trotzdem hatte sich Schmidt öffentlich empört: „Ein Drittel aller Röntgenuntersuchungen ist überflüssig!“ Die Ärzteschaft ging auf die Barrikaden. Lauterbach wurde vor die Senatskommission für wissenschaftliches Fehlverhalten der Uni Köln zitiert.

Schon damals reichlich unbeliebt in Kollegenkreisen war Lauterbach ob seiner Mitwirkung an Schmidts Gesundheitsreform mit einer Nullrunde für Ärzte und Kliniken sowie der Einführung der rasch verhassten Fallpauschalen, an denen die Kritik bis heute nicht nachgelassen hat.

Von 2001 bis 2013 saß Lauterbach im Aufsichtsrat der privaten Rhön-Klinikum AG, was auf seiner Website überraschender Weise nicht vermerkt ist. Doch das hängt womöglich damit zusammen, dass der Konzern 2013 ins Gerede kam, weil er, so die Süddeutsche Zeitung, „Putzkräfte jahrelang systematisch ausgebeutet und so den Mindestlohn unterlaufen haben soll“. Auf Anfrage der SZ, „ob er von den offenkundigen Missständen nichts mitbekommen habe“, ließ Lauterbach einen Mitarbeiter seines Abgeordnetenbüros lediglich erklären: „Herr Lauterbach wird das nicht kommentieren.“ Nun muss man diese Verhaltensweise natürlich nicht sofort mit dem Etikett „Wes Brot ich ess’, des …“ versehen, doch andererseits: Als Aufsichtsrat kassierte er 126.000 Euro. Und zwar allein in den Jahren 2011 und 2012. Zusätzlich zu seinen Abgeordnetendiäten wohlgemerkt (2012: 7960,00 Euro plus 4029,00 Euro steuerfreie allgemeine Kostenpauschale – pro Monat).

Und schließlich: In Pandemiezeiten mit ihrem immer wieder aufploppenden Menetekel einer Überlastung der Krankenhäuser und insbesondere von deren Intensivbehandlungskapazitäten muss nicht zuletzt daran erinnert werden, dass noch 2019, nur ein Jahr vor Corona, eine Studie der Bertelsmann-Stiftung der Bundespolitik nahegelegt hatte, den Bestand der Kliniken in Deutschland von damals noch etwas über 1900 auf 600 große Versorger herunterzufahren und dass Karl Lauterbach ebenfalls für eine solche Marschrichtung plädierte. Der Passauer Neuen Presse erläuterte er damals: „Bei weniger Krankenhäusern hätten wir mehr Pflegekräfte, Ärzte und Erfahrung pro Bett und Patient und könnten auf überflüssige Eingriffe verzichten.“ (Übrigens: Selbst im Corona-Jahr 2020 sind in Deutschland 21 Kliniken abgewickelt worden.)

Und was gibt es über Karl Lauterbach sonst noch zu wissen?

Zum Beispiel dieses:

  • Als er 2005 erstmals ins Parlament einzog, hatte er die Vision von dessen Ausstattung nur mit seinesgleichen: „600 Experten im Bundestag. Das wäre phantastisch.“ Denn: „Ich glaubte an die Vision Kants mit dem Ideal der Herrschaft der Vernunft.“ 2013 wusste er es dann besser: „Die Intelligenz eines Wissenschaftlers […] ist in der Politik oft nicht nur wertlos, sie schadet sogar. […] Wissenschaftler lieben Details und lange Vorträge, Politik braucht eine extreme Zuspitzung durch Bilder, plakative Sätze oder eine Story. […] Die Wissenschaftsgläubigkeit von Wissenschaftlern ist zu hoch, um ihnen die politische Verantwortung allein zu überlassen.“ Doch Ende 2020 wollte er demnächst nun doch ein Buch darüber schreiben, dass es mehr Wissenschaftler in der Politik brauche.
  • Sein eigenes Verhalten als SPD-Mitglied in seinen frühen Abgeordnetenjahren charakterisierte Lauterbach selbst einmal folgendermaßen: „illoyal, herablassend und falsch“. Dass die meisten Bundestagskollegen „Stimmvieh und Claqueure“ seien, würde er allerdings bereits seit 2013 „heute auf keinen Fall mehr sagen“.
  • Seit er im Bundestag sitzt, nimmt er natürlich dort regelmäßig an den Abstimmungen teil – egal zu welchem Thema. In den letzten Jahren hat er zum Beispiel immer wieder die Verlängerungen der diversen Auslandseinsätze der Bundeswehr abgenickt. Das Portal Abgeordnetenwatch führt detailliert Protokoll darüber.
  • Im September 2019 versuchte er, nach dem SPD-Vorsitz zu greifen und landete mit seiner Bewerbungspartnerin, der Klima-Expertin Nina Scheer, immerhin auf dem vierten Platz. (Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn die drei Teams vor ihm nicht angetreten wären.)
  • „Ich verachte das Namedropping!“, sagte er vor einiger Zeit dem SPIEGEL. Und: „Ich finde nix schlimmer, als wenn Leute miese Namedropper sind!“ Da muss er wohl etwas aufpassen, dass dergleichen Attitüde nicht in Selbstverachtung umschlägt. Peter Dausend von der ZEIT schilderte ein Date mit dem Professor im vergangenen Jahr folgendermaßen: „Wenn man sich mit Karl Lauterbache an einen Tisch setzt, bleibt man nicht lange zu zweit. Schnell gesellen sich Angela Merkel, Christian Drosten, dessen Virologen-Kollege Michael Meyer-Hermann und Finanzminister Olaf Scholz hinzu. Kanzleramtschef Helge Braun trifft kurz darauf ein, gefolgt von dem ein oder anderen Ministerpräsidenten, diversen Harvard-Professoren und Experten der University of Warwick. Schließlich erscheinen Barack Obamas Stabschef Rahm Emanuel sowie dessen Bruder Ezekiel, ein Medizinethiker von Weltrang. Und am Schluss schaut Luisa Neubauer von Fridays for Future noch kurz vorbei. Alles Menschen, mit denen Lauterbach, wie er erzählt, entweder gerade ‚intensiv in Kontakt steht‘ oder schon länger ‚befreundet‘ oder schlicht ‚ganz eng‘ ist. Einzeln oder in Kleingruppen lässt er sie virtuell am Tisch Platz nehmen […].“
  • Als die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut (Stiko) im Januar 2021 empfahl, dass AstraZenecas Anticoronaimpfstoff „noch nicht an Ältere verimpft werden“ sollte, „weil Daten zur Wirksamkeit noch ausstehen“, hielt Lauterbach dagegen, man solle dies gleichwohl trotzdem tun, denn man müsse schließlich „bedenken, wie hoch die Gefahr sei, an Covid-19 zu sterben“. Auch wenn der Vergleich hinkt: Für den Fall, dass noch gar kein Impfstoff zur Verfügung stände, käme das unter Evidenzgesichtspunkten einer Empfehlung nahe, es dann halt einfach erstmal mit Kochsalzlösung zu versuchen – eben wegen der hohen Gefahr, „an Covid-19 zu sterben“.

Lauterbachs modisches Markenzeichen war ja bekanntermaßen lange Zeit die unters Kinn montierte Fliege, gern auch in Signalrot. Jetzt hingegen sieht man ihn häufig mit leger geöffnetem Hemdkragen. Dazu erläuterte er der heute show: „Ich muss dynamisch, jünger, spontaner aussehen und beim jüngeren Publikum ankommen, und die Fliege wird mir da nicht zuarbeiten. Und da hab ich mich im Moment mit der Fliege zurückgenommen.“ Das mag man angesichts des satirischen Tenors der ZDF-Sendung als Selbstironie durchgehen lassen, obwohl Lauterbachs üblicher Auftrittshabitus eine solche Annahme eigentlich strikt ausschließt. Besser daher, man wünscht dem „jüngeren Publikum“ gegen Lauterbach eine vergleichbare Resistenz, wie sie in den entsprechenden Altersgruppen gegen den Covid 19-Erreger offenbar schon von Natur aus besteht.

In der nächsten Legislaturperiode will Lauterbach übrigens verbraucherschutzpolitischer Sprecher seiner Bundestagsfraktion werden. Das kann man durchaus als Drohung nehmen, dass „Karlchen Überall“, wie sie ihn in seiner Partei und den Medien früher auch nannten, durch ein mögliches Ende der Pandemie allein nicht zu stoppen sein wird. Oder mit seinen eigenen Worten: „Mir ist ja noch nie langweilig geworden, ich hab immer neue Aufgaben gefunden.“ Und einen Vorgeschmack darauf, was künftig noch von ihm zu gewärtigen sein könnte, hat Lauterbach durchscheinen lassen, als er Ende Dezember 2020 in einem Gastbeitrag für DIE WELT schrieb: „Eine Impfung gegen CO2 wird es […] nie geben. Somit benötigen wir Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, die analog zu den Einschränkungen der persönlichen Freiheit in der Pandemie-Bekämpfung sind.“