24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Dritter Systemwettbewerb:
It’s all about China!

von Jürgen Leibiger

Trotz Pandemie und Lockdown ist Chinas Wirtschaft im Vorjahr wie keine andere gewachsen. Selbst Japan oder Südkorea, die mit dem Corona-Virus bislang vergleichsweise gut zurechtkamen, rutschten in eine Rezession, während die Volksrepublik ein Wachstum um 2,3 Prozent verzeichnete. Mancherorts führte dies zur Feststellung, damit sei erneut und unabweisbar die Frage nach dem leistungsfähigeren Wirtschaftssystem aufgeworfen. Das beträfe nicht nur die Bewältigung des Infektionsgeschehens, sondern die Wirtschaft überhaupt. Während „der Westen“ abstürze und die Erholung unsicher sei, punkte China in diesem Jahr – so die Prognose – mit einer Wachstumsrate von 7 Prozent.

Werden beim Bruttoinlandsprodukt-Vergleich nicht Währungskurse, sondern Kaufkraftparitäten zugrunde gelegt, hat das Land nach den Berechnungen sowohl des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank als auch der CIA schon seit ein paar Jahren die USA als größte Volkswirtschaft überholt. Auch bei den Direktinvestitionen nimmt China den Spitzenplatz ein. Trotz wachsender Orientierung auf seinen Binnenmarkt gilt das mit großem Abstand auch für die Exporte. Mit über drei Billionen US-Dollar verfügt China über die höchsten Währungsreserven, darunter die meisten im Ausland gehaltenen US-Staatsanleihen. Es verfügt damit weit über doppelt so viel wie das zweitplatzierte Japan. Auch bei internationalen Patentanmeldungen hat China die Vereinigten Staaten überrundet. Weltweit reißt man sich darum, in China zu investieren, und fordert dessen Regierung immer dringlicher auf, seine Märkte mit den 1,4 Milliarden Verbrauchern zu öffnen.

Durch das RCEP-Abkommen (Regional Comprehensive Economic Partnership) ist gerade die größte Freihandelszone der Welt mit China im Zentrum entstanden. Es macht also Ernst mit dem Freihandel, was aber nicht etwa zu weniger, sondern mit Ausnahme beteiligter Staaten wie Japan, Australien oder Südkorea wohl zu mehr Sorgenfalten des „Westens“ führt; so hat man das wohl nicht gemeint. Zwar rangiert China beim Pro-Kopf-Einkommen unter „ferner liefen“, aber leicht lässt sich ausrechnen, dass bei dem vorgelegen Tempo seine Absicht, den Westen auch hierbei in etwa drei Jahrzehnten einzuholen, durchaus möglich ist. Wir Ossis wissen, wie schnell dreißig Jahre um sind, das ist gerade mal die Zeit seit der „Wende“.

Das sind natürlich Erkenntnisse, die nicht erst in der Pandemie gereift sind. Das Münchner ifo-Institut definierte schon vor geraumer Zeit einen neuen Themenkomplex „Globalisierung und Systemwettbewerb“. In diesem Wettbewerb gehe es „um militärische Vorherrschaft, aber auch um wirtschaftliche Konkurrenz: Wird der chinesische Staatskapitalismus die westlichen Marktwirtschaften in Wissenschaft, Technik und letztlich in wirtschaftlicher Dynamik und Effizienz übertreffen? Wird die Rolle Chinas in Entwicklungs- und Schwellenländern, vor allem in Afrika, wachsen und den Einfluss des Westens zurückdrängen? Kommt es so weit, dass sich die globale Wirtschafts- und Handelsordnung zunehmend an chinesischen Interessen orientieren wird? Damit verbunden ist die Frage, ob westliche Werte wie individuelle Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit eine Zukunft haben.“ Und in einem erst vor wenigen Tagen veröffentlichten Positionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum „transatlantischen Band“ wird vom „systemischen Rivalen“ gesprochen, der „die werte- und regelbasierte internationale Ordnung in eine sinozentrische Weltordnung verändern“ wolle und „auch militärisch zunehmend als Herausforderer“ auftrete.

Das ifo-Institut schreibt von einem dritten Systemwettbewerb. Nachdem der Westen den kalten Krieg gegen den kommunistischen Ostblock gewonnen habe, sei der Wettbewerb zwischen den demokratischen Marktwirtschaften um Standorte, Regulierungs-, Sozial- und Steuersysteme, um Investitionen und Innovationen in den Vordergrund getreten. Und nun sei ein dritter Systemwettbewerb entbrannt. „It’s all about China, stupid!“ titelt eine Studie des Kölner IW-Instituts. Der Westen gegen China!

Mit der Befürchtung, der Einfluss des Westens würde zurückgedrängt, wird dessen Führungsrolle als legitim und gegeben unterstellt. Joe Biden, der neue USA-Präsident, verwendet zwar nicht die Formel „America first“, postuliert aber, „Amerika“ müsse in der Welt wieder führen. Dabei erhebt China gar keinen Anspruch darauf, etwas Ähnliches wie eine Pax Americana zu schaffen. Es gibt auch – anders als im sozialistischen Lager vor 1990 – nicht das erklärte Ziel, den Sozialismus oder seine chinesisch gefärbte Variante weltweit zum Sieg zu führen oder gar einen Slogan wie Erich Honeckers „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“ Freilich: Man will an die Jahrtausende zurückreichende ökonomische, kulturelle und weltpolitische Bedeutung anknüpfen und sich auf Augenhöhe mit anderen Weltmächten bewegen.

China verbindet seine Investitions- und Handelsoffensiven nicht mit politischen Forderungen. Kein Boykott, kein Embargo, keine Erpressung oder Drohung, keine Unterstützung von Putschgenerälen, keine geheimdienstlichen oder militärischen Interventionen, keine Versuche zum regime change, keine im Ausland betriebene Foltergefängnisse und Gefangenenlager, keine Sanktionen, also nichts von jenen Praktiken, die bis auf den heutigen Tag zur Politik der USA gehören. Souveränität und Selbstbestimmtheit ja, aber wer wollte das China verdenken? Wohl wahr: Seine Rüstungsausgaben steigen enorm, aber was sind 261 Milliarden Dollar gegen die 732 Milliarden allein der USA? Beide steigerten ihre Ausgaben zuletzt um reichlich 5 Prozent jährlich; nach Adam Ries macht das ein Plus von 36 Milliarden für die USA und 13 Milliarden für China; die USA bauen ihren Abstand also aus. Müssen sie sich gegen so viele potenzielle Gegner mehr verteidigen? Zum Vergleich: Beide Staaten haben etwa die gleiche Fläche, aber China eine fast doppelt so lange Landgrenze mit der fünffachen Zahl von Nachbarn und eine viermal größere Bevölkerung. Es hat einen einzigen Militärstützpunkt im Ausland, die USA haben ungefähr 800. Selbst wenn von der NATO unter US-amerikanischer Führung abgesehen wird: Wer will hier die Welt dominieren? Mit welchen Werten?

Ist es einseitig oder zu China-freundlich, auf diese Aspekte des neuen Systemwettbewerbs aufmerksam zu machen? Einseitig und einäugig ist es, Chinas wirtschaftliche Expansion, sein Ansprüche auf Taiwan und einige Inseln im Südchinesischen Meer, seine Repressionen nach innen und in Hongkong zu kritisieren, aber über den „systemischen Rassismus“ – Joe Bidens Worte –, die anhaltende Diskriminierung der Ureinwohner, die politischen, militärischen und ökonomischen Gewaltakte der Führungsmacht des Westens und seiner Gefolgschaft und ihre imperiale Attitüde hinwegzusehen. Ob in China eine Gesellschaft in Sicht ist, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ ist und in der alle Verhältnisse umgeworfen sind, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ – der ursprüngliche kategorische Imperativ kommunistischer Bewegungen, ihr Wertekanon – mag man getrost bezweifeln. Trotz der Orientierung auf einen „Sozialismus chinesischer Prägung“ ist da ein letztes Wort noch nicht gesprochen; zu tief stecken einem die Erfahrungen mit dem Sozialismus im 20. Jahrhundert noch in den Knochen. Wir Ossis wissen, was in dreißig Jahren alles passieren kann; wer hätte 1961 vermutet, dass es die DDR dreißig Jahre später nicht mehr geben würde?

Erwähnenswert ist noch, dass in der Ausrufung der dritten Systemkonkurrenz nicht wie sonst vom „kommunistischen“ System Chinas, sondern von einem „autoritären Staatskapitalismus“ gesprochen wird. Offensichtlich soll die sozialistische Orientierung in diesem Kontext nicht erwähnt werden. Irgendwie verständlich: Soll man, nachdem der kommunistische Osten vor dreißig Jahren besiegt worden war und man das „Ende der Geschichte“ ausgerufen hatte, etwa zugeben, ein kommunistisches Land übernehme jetzt eine führende Position in der Weltwirtschaft? Es kann nicht sein, was nicht sein darf; man nennt ja auch den Teufel nicht beim Namen. „Wenn man den Teufel beim Namen nennt, dann kommt er auch g’rennt“; besser, von ihm als dem „Gottseibeiuns“ zu sprechen. It’s all about China, Gottseibeiuns!