Die Covid-19-Pandemie hält die Welt weiter in Atem. Vorerst gibt es keine Entwarnung. Noch ist die zweite Welle nicht abgeklungen, da warnt der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité bereits vor einer dritten Welle mit Zehntausenden von Neuinfektionen pro Tag und Tausenden von Toten. Es werden „Fallzahlen“ prognostiziert, nicht mehr von 20.000 oder 30.000 wie bisher, „sondern im schlimmsten Fall von 100.000 pro Tag“. Mit einer solchen Entwicklung sei zu rechnen, wenn die Corona-Maßnahmen zu früh gelockert würden oder man die Gelegenheit verstreichen ließe, durch konsequente Einhaltung der getroffenen Maßnahmen die Infektionszahlen in den nächsten Wochen drastisch, das heißt tendenziell bis auf null, zu senken. Diese Feststellung und die hierin implizierte Forderung nach einer Fortsetzung und möglichen Verschärfung der Einschränkungen kollidiert nicht unerheblich mit den Erwartungen in der Gesellschaft und den Vorstellungen der Politik. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, hier ein sich immer weiter verstärkendes Konfliktpotenzial auszumachen: Die Corona-Pandemie und ihre Bekämpfung bewegen sich im Spannungsfeld von Wissenschaft und Gesellschaft beziehungsweise zwischen Wissenschaft und Politik.
Der Untersuchung dieser Problematik haben sich zwei Wissenschaftler angenommen, indem sie seit Erscheinen der ersten Berichte über das Auftreten des SARS-CoV-2-Virus in Deutschland analysierten, wie Wissenschaft und Politik auf die lebensgefährliche Pandemie reagierten, wie sie ihre Erkenntnisse und die notwendigen Abwehrmaßnahmen kommuniziert haben und welche Konflikte hierbei aufgetreten sind. Herausgekommen ist dabei ein aktuelles und zugleich für viele hochinteressantes Buch. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Pandemie keine Angelegenheit allein der Medizin ist, sondern die ganze Gesellschaft betrifft, das heißt alle Bereiche, Strukturen, Institutionen und Bevölkerungsgruppen. Die Erfolge wie die Misserfolge beim Umgang mit der Pandemie zeigen die Vorzüge unserer Gesellschaft auf, ebenso aber auch die Schwachstellen derselben, ihre Verwundbarkeit. Die beiden Autoren des vorliegenden Buches sind Wirtschaftswissenschaftler. Ihre Expertise gilt folglich nicht der Medizin, sondern der Ökonomie, der Statistik, der Informatik und der Politik. Wie die Lektüre zeigt, ist dies kein Nachteil. Der Blick „von außen“ auf das medizinische Geschehen, auf das Gesundheitswesen und die Gesundheitspolitik, erweist sich vielfach sogar als Vorzug. Schließlich geht es in dem Buch nicht um medizinische Details, sondern vielmehr um die Folgen der Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung und Bekämpfung für die Gesellschaft, für den Staat, für die Volkswirtschaft und für die Politik.
Einleitend legen Friedrun und Georg Quaas dar, wie in Deutschland, aber auch anderswo, gar nicht, falsch oder zumindest viel zu zögerlich auf die ersten Warnzeichen aus China reagiert worden ist. Dadurch wurde wertvolle Zeit verschenkt. Zugleich aber wurde auch sichtbar, welche Prioritäten in unserer Gesellschaft gelten. Die Stichworte hierfür sind Karneval, Ski-Urlaub, Sport-Events und Fußball. Überdies wird dargelegt, welche Unklarheiten und Irritationen in der Bevölkerung entstehen können, wenn sich nicht nur die wirklichen, sondern auch die vielen „selbsternannten Experten“ lautstark zu Wort melden – und Gehör finden. „Das macht es selbst dem informierten Bürger nicht leicht, zwischen abgesicherten Erkenntnissen und Fake News zu unterschieden.“ Zumal, wenn auch Politiker sich daran beteiligen, Fake News zu verbreiten oder Verschwörungstheorien aufsitzen.
Es hat sich aber auch als problematisch erwiesen, die fachinterne Diskussion unter Virologen, Infektiologen und Epidemiologen teilweise öffentlich zu führen und den unter Wissenschaftlern durchaus üblichen Meinungsstreit coram publico auszutragen. Politiker wie Bürger wünschen sich in solchen Fällen eine eindeutige und klare Einschätzung der Lage und eine einhellige Beurteilung der zu treffenden Maßnahmen. Dies aber widerspricht der wissenschaftlichen Praxis und den Gepflogenheiten der Experten, welche die Wahrheit nicht in ihren Archiven haben, sondern im Widerstreit verschiedener Hypothesen herauszufinden versuchen. Hinzu kommt, dass es auch hier einen Wettbewerb gibt, zwischen den verschiedenen Schulen, Theorien, Ansätzen, Institutionen und Personen, und dass einzelne Wissenschaftler versuchen, sich im öffentlich ausgetragenen Meinungsstreit zu profilieren. Die hierzu angestellten Beobachtungen und unter der Überschrift „Wissenschaft trifft auf Gesellschaft“ vorgenommenen Überlegungen der Autoren sind höchst interessant und exemplarisch auch für andere Streitfälle.
Bemerkenswert ist auch, was Friedrun und Georg Quaas zu den veröffentlichten Daten, den Berechnungsmethoden, verwendeten Modellen, Gleichungssystemen, Dunkelziffern und so weiter aufgeschrieben haben. Im Mittelpunkt steht hier die sogenannte „R-Zahl“ (Reproduktionszahl), wie sie das Robert-Koch-Institut (RKI) definiert und ausweist sowie die daran geknüpfte politische Entscheidungsrelevanz. Die Autoren vermögen zu zeigen, wie unterschiedliche Berechnungsmethoden zu unterschiedlichen Schlüssen führen und wie die Politik darauf jeweils reagiert. Das siebente Kapitel erlaubt den Lesern einen Einblick in die Diskurskultur, wie sie Georg Quaas im Meinungsaustausch mit Bloggern kennengelernt hat. Hieran wird deutlich, welche Probleme bei einer „populärwissenschaftlichen Diskussion“ über Corona-Verläufe und -Maßnahmen auftreten können, wenn sich Laien und Möchtegernwissenschaftler daran beteiligen, die an allem zweifeln, nur nicht an der eigenen Kompetenz.
Der wichtigste Teil des Buches bezieht sich auf die „gesellschaftliche Erfahrung“ mit der Covid-19-Pandemie. Immer deutlicher wird, dass alle ergriffenen, aber auch unterlassenen Maßnahmen ihren Preis haben. Dieser muss in das Kalkül einbezogen werden, wenn eine sachliche Bestandsaufnahme angesagt ist. „Die Malaise liegt allerdings darin, dass man erst a posteriori weiß, ob der gezahlte Preis nicht zu hoch war.“ Vielleicht stellt sich am Ende heraus, dass die „Kollateralschäden“ gravierender waren als der beabsichtigte positive Effekt. Vielleicht aber gilt auch das Gegenteil. Abgerechnet aber wird erst am Schluss, wenn man weiß, ob die getroffenen Maßnahmen geholfen haben oder nicht und welche Maßnahmen am meisten gewirkt haben. Zuvor aber kommt es für die Politik darauf an, die „richtigen“ Prioritäten zu setzen! – Das Buch kann helfen, sich im Gestrüpp der unterschiedlichen Meinungen und komplizierten Problemlagen besser zurechtzufinden. Auf jeden Fall aber wird deutlich, wie fragil unsere Gesellschaft ist und dass sich bis zum Anrollen der nächsten Welle in der Bundesrepublik Deutschland einiges ändern sollte.
Friedrun Quaas / Georg Quaas: Corona – der unsichtbare Feind. Wie Wissenschaft und Gesellschaft reagieren, Metropolis-Verlag, Marburg 2021, 282 Seiten, 24,80 Euro.
Schlagwörter: Corona, Gesundheit, Politik, Ulrich Busch, Wissenschaft