24. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2021

Spätzeit im Guckkasten

von Erhard Weinholz

Bestsellerautor“ verheißt ein Aufkleber, die „Wiederentdeckung eines vergessenen Stücks deutscher Vorwende-Geschichte“ verspricht der Klappentext. Nun, dieses Stück Geschichte ist schon mehr als einmal wiederentdeckt worden. Als kleine Hochstapelei erweist sich auch der Untertitel von Gunnar Deckers „Zwischen den Zeiten“: „Die späten Jahre der DDR“, das verlangt nach der Totale – von der Produktivkraftentwicklung bis zum Parteilehrjahr und von da zur Partnertausch-Annonce. Tatsächlich geht es um einiges weniger, um höchst Wichtiges aber dennoch: um jenen Emanzipationsprozess, der, so heißt es im Prolog, lange vor 1989 einsetzte und dem westlichen Siegerblick zumeist entgeht. Denn der ist, das füge ich mal hinzu, auf totalitäre Herrschaft eingestellt.

Die damaligen Ost-Verhältnisse positiv auf den Begriff zu bringen hat Decker erst gar nicht versucht, er nähert sich der Sache vom Negativen her: „Die DDR der achtziger Jahre war weder militant-stalinistisch noch kommunistisch-visionär.“ Zu finden ist dieser Satz auf Seite 319; ich hätte ihn mir an den Anfang gewünscht. Denn dass die Biermann-Ausbürgerung, wie jetzt eingangs zu lesen ist, die DDR-Gesellschaft in wütende Melancholie gestürzt hat, aus der sie erst 1985 dank Gorbatschow erwachte, hört sich zwar gut an, trifft aber nicht zu: Nicht wenigen im Lande war diese Ausbürgerung eher schnuppe, andere haben sie sogar begrüßt. Zudem sind schon ab 1980, das erwähnt der Autor dann ja auch, mit den Friedensgruppen Strukturen entstanden, die für den Beginn der 89er Revolution von Belang waren.

Zur Emanzipation gehört die Befreiung von Ideologie- und Parteigläubigkeit. Wenn Decker, oft von eigenem Erleben ausgehend, diesen mühsamen Prozess und seine Voraussetzungen nachverfolgt, hat er vor allem die Künste im Blick, in geringerem Maße Politik und Wirtschaft. Politische Zentralfigur ist bei ihm Gorbatschow: Mit seinem Erscheinen verbinde sich „das Aufhören der übermächtigen Angst, das Aufleuchten von Hoffnung“. Mir ist solche Angst nicht erinnerlich. Und ob die Hoffnungen in der DDR Gorbatschows Reformen galten, kann ich als Leser kaum einschätzen: Wir erfahren auf dreißig Seiten viel über ihn, manches über sein politisches Handeln, doch über diese Reformen so gut wie nichts. Dass er die „Abschaffung der führenden Rolle der KPdSU […] forderte“, mag sein, wird aber nicht belegt. Noch im Mai 1988 hieß es in den Thesen zur XIX. Parteikonferenz unmissverständlich: „Die Partei hat […] die Theorie und Strategie der gesellschaftlichen Entwicklung, die Innen- und Außenpolitik auszuarbeiten […].“

Auch auf die DDR-Gorbatschowisten geht Decker ein, auf ihr Forschungsprojekt Moderner Sozialismus. Bernd Gehrke hat die Versäumnisse dieser Strömung, die sich nicht einmal im Sommer 1989 zu eigenständiger politischer Aktion aufraffen konnte, in „… das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende“ deutlich benannt, bei Decker hingegen findet sich dazu kein (selbst)kritisches Wort. Stattdessen will er uns mit rhetorischen Kniffen weismachen, man ende unweigerlich beim Voluntarismus, wenn man nicht auf die Marktwirtschaft setze – als gebe es jenseits von staatsbürokratischer Planung und Markt nichts sinnvolles Drittes. Das Ökonomische ist ohnehin nicht Deckers Stärke, das betreffende Kapitel leidet an einer Reihe von Fehlern und Mängeln. Zum Beispiel gibt er an, die DM-Verschuldung der DDR (bei der er zunächst Milliarden mit Millionen verwechselt) sei ab 1985 weiter gesunken; sein Gewährsmann hat diese Schulden jedoch mit RGW-Außenständen verrechnet, und das ist nicht realistisch.

Lohnend fand ich die Lektüre vor allem, wo Decker sich den Künsten zuwendet. Was er über einzelne Werke – einige aus der SU, die meisten aus der DDR – sowie etliche kulturpolitische Höhe- und Tiefpunkte jener Zeit schreibt, ist informativ, geradezu spannend mitunter, erhellend und immer gut lesbar, nicht zuletzt, weil er auf jedwedes Fachchinesisch verzichtet. Wenn er den Gehalt von Texten und Bildern erschließt, dann fast immer im Zusammenhang mit der Situation ihrer Autoren und Schöpfer, der Lage im Lande, mit den Träumen, gegen die Verbote machtlos waren.

Fragwürdig erscheint mir aber auch hier so manches, anderes habe ich vermisst: Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ die Bibel der DDR-Jugend – woher will Decker das wissen? Bahro eher unverstanden? Das überschüssige Bewusstsein, von dem er in „Die Alternative“ spricht, war ein Hoffnungsträger. Und warum kein Wort über Konstantin Paustowski, der sich für Bulgakow eingesetzt hat wie kein zweiter, oder über Juri Trifonows Stalinismuskritik? Wie man Heym 1979 abgestraft hat, wird deutlich. 1988 dagegen, zum 75. Geburtstag: ganzseitige Anzeige im Börsenblatt, Rundfunksendung, Höpcke gratuliert. Gab es da einen Neuansatz in der Literaturpolitik? Gab es damals überhaupt noch so etwas wie eine in sich schlüssige Kulturpolitik? Das hätte mich erheblich mehr interessiert als etwa der Lebenslauf von Dean Reed.

Auf allgemeine Erwägungen über die Rolle der Künste in der DDR hat Decker verzichtet. Zu sagen gewesen wäre aber zumindest, dass Kunst und Arbeiterschaft auch hier, trotz Bitterfelder Weg und millionenfachem Kampf um den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“, einander fremd geblieben sind. Und war die DDR-Literatur mit ihren Dauerthemen „Scheitern“ und „Versagen“ für die lesende Minderheit zuletzt überhaupt noch so wichtig? Decker, vorwiegend biographisch orientiert, entwickelt vieles von den einzelnen Autoren her, so geraten Fragen dieser Art, die für die Vorgeschichte des 89er Herbstes wichtig gewesen wären, kaum in den Blick.

„Zwischen den Zeiten“ soll Verschüttetes freilegen, an Hoffnungen erinnern, die 1989/90 unverwirklicht blieben. Das ist verdienstvoll, doch würde ich dabei weniger von Utopien sprechen. Alles nur Utopien, das sagen jene, die in der deutschen Einheit die Vollendung der Herbstrevolution sehen. Tatsächlich hat damals selbst die radikale sozialistische Linke, deren Vorstellungen nur eine kleine Minderheit folgte, nicht die Bodenhaftung verloren. Reden wir also lieber von Gegenentwürfen, wenn es uns darum geht, Jüngeren das Erbe dieses Herbstes zu erschließen.

Gunnar Decker: Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR, Aufbau-Verlag, Berlin 2020. 432 Seiten, 28,00 Euro.