24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2021

Signal aus Kiew

von Wilfried Schreiber

Es sind eher die sogenannten kleinen Meldungen, die nachdenklich machen, weil sie relativ unauffällig, aber symptomatisch für sich abzeichnende größere Veränderungen sind. So auch in einem Beitrag zur Militärpolitik der Ukraine im Deutschlandfunk vom 5. Januar dieses Jahres. Erfreulicherweise war die Ukraine in den letzten Monaten aus der allgemeinen medialen Wahrnehmung fast verschwunden. Mit dem Präsidentenwechsel in den USA scheint sich das zu ändern.

In einem Beitrag des Sendeformats „Europa heute“ und unter dem Titel „Ukraine hofft auf Biden“ wurde die Absicht der ukrainischen Regierung vermittelt, möglichst schnell der NATO beizutreten. Wortführer war Verteidigungsminister Serhij Taran, der Mitte Dezember 2020 den Abschluss eines Militärabkommens zwischen der Ukraine und der Türkei nutzte, diesen Anspruch geltend zu machen. Dieses Abkommen sieht regelmäßige Konsultationen vor, die kurz vor Weihachten erstmals stattfanden. Taran bezeichnete dabei die angestrebte militärstrategische Partnerschaft mit der Türkei als Öffnung des Weges zur Vollmitgliedschaft der Ukraine in der NATO. Dabei solle vor allem die „Situation im Schwarzen Meer“ stabilisiert werden, betonte er.

Gemeint ist damit die Neutralisierung einer Bedrohung, die von Russland durch den Konflikt um die Krim ausgehe. Dort rücke Russland mit seinen modernen Raketensystemen an die NATO-Mitglieder in Südosteuropa heran. Also Russland rücke an die Grenze des Westens heran und nicht die NATO an die Grenze Russlands. Obwohl Russland seit ursowjetischen Zeiten auf der Krim Militärstützpunkte und in Sewastopol seinen einzigen Tiefseehafen der Marinestreitkräfte betreibt. Auf diese Stützpunkte vor allem hatte es die NATO vor der Sezession der Krim und vor dem Janukowitsch-Putsch im Jahre 2014 abgesehen.

Die USA hatten für einen Regime Change in der Ukraine bis 2014 bereits fünf Milliarden USD investiert, wie die damalige stellvertretende Außenministerin für europäische und eurasische Angelegenheiten im US-Außenministerium, Victoria Jane Nuland, verlauten ließ. Und diese Victoria Nuland, die damals auch durch den Spruch „Fuck the EU“ bekannt wurde, soll unter Joe Biden erneut die Funktion einer stellvertretenden Ministerin im Außenministerium der USA erhalten. Übrigens sprach sich Biden schon als Vizepräsident unter Obama 2014 entschieden für eine militärische Unterstützung der Ukraine aus. Kein Wunder also, dass die derzeitige Regierung der Ukraine darauf setzt, vom neuen Präsidenten der USA volle Unterstützung für eine schnelle Aufnahme in die NATO zu erhalten.

Als nächster Schritt dazu wird die Aufnahme in den „Membership Action Plan“ der NATO noch im Jahre 2021 erwartet. Am besten gemeinsam mit dem anderen NATO-Anwärter aus dem postsowjetischen Raum, Georgien, wie der ehemalige ukrainische Abgeordnete und Sicherheitsexperte, Ivan Saijets, in der Sendung betonte. Der Verweis auf Georgien und den „Membership Action Plan“ war verbunden mit dem Hinweis, dass dieser Antrag schon 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest von beiden Ländern gestellt worden sei, auf dem diese Länder auch eine offizielle Beitrittsperspektive erhalten hatten. Dazu nochmals Originalton Saijets: „Wenige Monate später griff Russland Georgien an. Wir haben gesagt: Als nächstes ist die Ukraine dran – und danach andere ehemalige Sowjet-Republiken“.

Dieses Zitat, das den Eindruck eines russischen Angriffskrieges vermittelt, bringt kommentarlos ein deutscher Radiosender, der eigentlich wissen müsste, dass inzwischen von einer EU-Untersuchungskommission völkerrechtlich klar bestätigt wurde, dass dieser Krieg von Georgien durch den Überfall auf Zhinvali provoziert wurde – und nicht durch Russland. Der damalige Präsident von Georgien hieß Micheil Saakaschwili, der nach Ablauf seiner georgischen Präsidentschaft 2015 und 2016 als Gouverneur des Gebietes von Odessa den „Reformprozess“ in der Ukraine unterstützte.

Jetzt soll es also erneut im Verbund von Ukraine und Georgien und nunmehr zum Endspurt um die NATO-Mitgliedschaft gehen und den Russen die Krim mit ihrem geostrategischem Potenzial und dem Zugang zum Asowschen Meer endgültig entrissen werden. „President elect“ Biden signalisiert mit seiner „Personalentscheidung Nuland“ Unterstützung für dieses Projekt und kündigt zugleich die Fortsetzung des antirussischen außenpolitischen Kurses der Regierung Obama an.

Ob die Aufnahme in den „Membership Action Plan“ allerdings schon 2021 erfolgen wird, bleibt fraglich und hängt sowohl von der inneren Entwicklung in den USA als auch von der Haltung einiger westeuropäischer NATO-Staaten ab. Bisher galt, dass Länder im Krisenmodus für die NATO nicht aufnahmefähig sind. Das trifft nach wie vor für Georgien und die Ukraine zu.

Die Ukraine kann aber für sich in Anspruch nehmen, dass sie im Juni des vergangenen Jahres – wie zuvor schon Georgien – den Status „Partner mit erweiterten Möglichkeiten“ erhielt. Damit hat sie die Möglichkeit, an allen NATO-Manövern teilzunehmen und auch an NATO-Operationen, wie es in Afghanistan und im Kosovo bereits erfolgt ist. Sie hat auch Zugang auf bestimmte geheime Bündnisinformationen und erhält aktive Unterstützung für eine Militärreform, die Führungsgrundsätze nach NATO-Standard durchsetzen soll. Im November 2020 erhielt die Ukraine erstmals militärische Ausrüstungen durch die NATO-Versorgungsagentur NASPA. Über die NATO hinaus verstärkte sich auch die direkte militärische Zusammenarbeit mit den USA. So lieferten die USA zum Beispiel Panzerabwehrraketen des Typs „Javelin“ an die Ukraine.

Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass die Vorbereitungen der Ukraine auf eine volle NATO-Mitgliedschaft schon recht weit gediehen sind. Kein Wunder, dass diese Entwicklung von Russland als eine Provokation, zumindest aber als unfreundlicher Akt wahrgenommen wird. Der Ruf der Ukraine nach der NATO ist in der gegenwärtigen Situation ein gefährliches Signal. Dieses Signal verweist auf eine Eskalation der Konfrontation statt auf Entspannung. Die deutsche Verteidigungsministerin und Noch-Vorsitzende der CDU Annegret Kramp-Karrenbauer hat kürzlich erkennen lassen, dass die Bundesregierung bereit ist, diesen Kurs zu unterstützen, als sie erklärte, man müsse Russland „in guter Tradition“ aus einer „Position der Stärke“ entgegentreten. Eine solche Haltung zeugt von der Infektion mit einem politischen Virus, die gefährlicher ist als die Corona-Pandemie. Es ist die Infektion mit dem Virus der Feindschaft zu Russland. Mit diesem Virus zu spielen, ist ein Spiel mit dem Feuer. Bleibt nur zu hoffen, dass die Russen weiterhin nicht die Nerven verlieren.