Nach Helmut Bocks kritischen Bemerkungen zu Lenins „Aprilthesen“ (1997), Wolfgang Ruges 2010 publizierten Vorlesungen über Lenin sowie Michael Bries Relektüre von Lenins Werk (2017) meldet sich Hans Poerschke (geb. 1937) mit einer Studie über Lenins Auffassungen zum Verhältnis von Partei und Presse zu Wort. Auch für den vierten Professor im Bunde war die erneute Hinwendung zu Lenins Werk kein Ausflug in unbekanntes Neuland. Vor allem für ihn, zunächst Student an der Journalistenfakultät in Leipzig, dann ab 1970 Dozent für Wesen und Funktion des sozialistischen Journalismus, und ab 1983 Professor für Theorie des Journalismus, gehörte der Rückgriff auf Lenin zum Handwerkszeug. Dass er Lenins Werk und die in der Sowjetunion veröffentlichte „Sekundär“-Literatur sehr gut kannte, beweist das vorliegende, äußerst lesenswerte Buch. Poerschkes zusammenfassendes Urteil in Anlehnung an Lenins Frage „Auf welches Erbe verzichten wir?“ lautet: „In unserem Falle trifft diese Überschrift ihn selbst“. Klarer geht’s wirklich nicht.
Unter der Losung „Zurück zu Lenin!“ hoffte Poerschke im letzten Jahrzehnt der DDR, gegen die Medienpolitik der SED vorgehen zu können. Seine Forderung, zu ergründen, was Lenin wirklich sagte, lief im Laufe der Zeit in eine für ihn unverhoffte Richtung. Zu dieser Einschätzung gelangte er, nachdem er zum ersten Mal in seinem Leben „Lenin tatsächlich gelesen“ hatte. Es lohnt, die selbstkritischen Zeilen, entstanden während der Suche nach den Ursachen für die Katastrophe des „staatlich organisierten Sozialismus“, zu lesen. „Daraus ergibt sich folgerichtig, dass auch in dieser Hinsicht das Prinzip der Parteiliteratur – entgegen meinen einstigen Wünschen – nur zur Rechtfertigung, nicht aber zur Überwindung der Praxis eines gegängelten Journalismus und einer kanalisierten Öffentlichkeit dienen konnte.“
Neben Lenin kommen im Buch vor allem die russischen Sozialdemokraten und Kampfgefährten Lenins Pavel Aksel’rod, Aleksandr Bogdanov, Julij Martov, Georgi Plechanov und Lev Trockij zu Wort. „Die äußerste polemische Zuspitzung dieser Befürchtungen“, kommentiert Poerschke einen kritischen Kommentar Plechanovs, der Lenins Bonapartismus aufs Korn nimmt, „ist mit den Händen zu greifen, und sie wären mir seinerzeit, hätte ich sie damals gekannt, als eine geradezu gotteslästerliche Unterstellung vorgekommen“.
Poerschke stützt sich in seiner Studie immer wieder auf die neueren Arbeiten des russischen Historikers Stanislav Tjutjukin, um zu belegen, „was die führenden Menschewiki wirklich gesagt haben“. Andere, darauf aufbauende Untersuchungen werden nicht erwähnt. Ungeachtet der von russischen Kollegen ausführlich dokumentierten und rezipierten Entstehungsgeschichte der russischen Sozialdemokratie hält Poerschke am veralteten Bild der SDAPR als einer Partei fest. Dabei handelte es sich bei den Menschewiki und Bolschewiki nicht um zwei Strömungen, sondern um zwei Parteien unter einem organisatorischen Dach.
Nach vergleichbaren, von Autoren „aus dem Westen“ vorgetragenen Kritiken an der „journalistischen Arbeit als Machausübung und Einfallstor für autoritäres Verhalten“, „für Ausschließlichkeitsanspruch und Unterdrückung missliebiger Meinung“ sucht man im Buch leider vergebens. Dabei haben auch diese Autoren zum Nachweis der Untauglichkeit der Partei neuen Typs für die Entwicklung der politischen Kultur einer emanzipatorischen Partei beigetragen. Ruge und Brie haben nicht nur die von Lenin beförderte „Abgrenzung von Andersdenkenden“, die in deren „Ausgrenzung“ mündete, nachgezeichnet, sondern auch auf Unterschiede zwischen der von Lenin geforderten Selbstaufgabe beziehungsweise dem Davonjagen Andersdenkender und dem Stalinschen Terror hingewiesen. Poerschke, das zeichnet die vorliegende Studie aus, kann keine erkennen. „Das von Lenin inspirierte und unter seiner Führung verwirklichte Regime des Umgangs der Partei mit der Presse war durch und durch undemokratisch. […] Gewiss kann man Lenin nicht für die besondere Perversität der Herrschaft Stalins verantwortlich machen. Aber es bleibt: die Reglementierung der Presse als Bestandteil des leninschen Systems der Machtausübung enthielt die Möglichkeit, die ideellen und strukturellen Voraussetzungen der Entwicklung zum Stalinismus, aber keine Vorkehrungen, die diese hätten verhindern können.“
Lenin ging es nicht um Demokratie sondern um Effektivität. Der Apparat mit allen seinen Presse-Rädchen und Schräubchen sollte reibungslos arbeiten. Eine Funktion der Parteiliteratur im Prozess der innerparteilichen Demokratie kommt laut Poerschke in den ausgewerteten Artikeln „Was tun?“, „Parteiorganisation und Parteiliteratur“, „Die Freiheit der Meinungsäußerung“ und in „Der Journalismus in der Sozialdemokratie“ überhaupt nicht vor. Das nach dem Oktoberumsturz angenommene Dekret „Über die Presse“ enthielt die Versicherung, „die Unterdrückung der Presse zu beenden, sobald die neue Ordnung sich gefestigt haben wird“. Dazu kam es bekanntlich nicht, das Verbot – Gegenstand des dritten Kapitels – erstreckte sich auch auf Zeitungen der kommunistischen Opposition und die Presseorgane der verbündeten sozialistischen nichtbolschewistischen Parteien. Schritt für Schritt wurde diese Praxis auch auf das gesamte sowjetische Verlagswesen ausgedehnt, als allgemeines Prinzip in den Aufnahmebedingungen der Komintern verankert und schließlich als „Grundbaustein der marxistisch-leninistischen Journalismustheorie“ an den Universitäten der Ostblockstaaten gelehrt.
Hans Poerschke: Das Prinzip der Parteiliteratur. Partei und Presse bei und unter Lenin 1899–1924, Herbert von Halem Verlag, Köln 2020, 240 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Hans Poerschke, Lenin, Parteiliteratur, Presse, Stalinismus, Wladislaw Hedeler