24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Lagerkoller

von Bruni Butzke

Die dritte Welle führt in die Psychiatrie, warnte der ideenreiche Philosoph Slawoj Žižek bereits im vorigen Jahr. Da war die zweite Corona-Welle noch nicht angerollt. Gewiss, ihr Nicht-Handeln in Zeiten der Seuche hat Populisten wie Bolsonaro in Brasilien und Trump in den USA Ansehen gekostet, letzteren am Ende das Amt. Was aber bringt ein Handeln, dessen wesentliche Essenz die Internierung der eigenen Bevölkerung ist? In den Niederlanden randalieren in etlichen Städten nächtelang Jugendliche gegen die verordnete Ausgangssperre, bauen Barrikaden, die sie anzünden, und plündern Geschäfte. Solche Bilder kannte man aus den Vorstädten von London und Paris. Aber bei den biederen Holländern?

Die Dauer-Internierung nebst Heimarbeit und häuslicher Beschulung der eigenen Kinder widerspricht, wie kundige Entwicklungspsychologen und Erziehungswissenschaftler anmahnen, der menschlichen Psyche. Als „Zoon politicon“ bezeichnete Aristoteles den Menschen, ein soziales und politischen Wesen. Das entspricht auch den anthropologischen Dispositionen aus der Zeit der Menschwerdung: Nur in der Gruppe oder der Horde hatte der Einzelne eine Chance zu überleben. Das betrifft jetzt vor allem Kinder, die nicht mit ihren Altersgenossen spielen und toben dürfen. Die zwangsweise Vereinzelung ist wider die menschliche Natur. Ganz abgesehen davon, dass in diesem sozial verwahrlosten Deutschland, in dem wie in kaum einem anderen Land in der EU die tiefen sozialen Gräben zwischen arm und reich, oben und unten durch die primäre Bildung von Generation zu Generation weitergereicht werden. Es ist an der Schule, dem durch durchdachte Bildungsangebote gegenzusteuern. Die Schulschließung und die verordnete Heim-Beschulung vertiefen die Gräben: die aus den gebildeten, wohlhabenderen Schichten werden weiter gebildeter, die anderen, aus den armen oder prekär lebenden Familien bleiben ungebildet. Die einen haben zu Hause einen eigenen Arbeitsplatz und Computer, die anderen, in überfüllten Wohnungen mit vielen Geschwistern, Geschrei und oft häuslicher Gewalt nicht.

So schrieb Simon Kannenberg, studierter Theologe und Erziehungswissenschaftler, kürzlich in dem sozialdemokratischen ipg-journal unter der Überschrift „Die Generationenkrise“: „Die Fixierung auf Infektionszahlen ist falsch. Statt auf Lockdowns sollte in der Pandemie der Fokus auf dem Wohl der jungen Generation liegen.“ Und weiter: „Bildungsgewerkschaften bemängeln das Abrutschen leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler in Zeiten häuslicher Beschulung. Kinder- und Jugendärzte warnen vor Depressionen bei Jugendlichen. Kinderschutzbunde kritisieren die soziale Isolation von Kindern durch Kontaktverbote. Elternverbände warnen vor dem Verlust des für die Entwicklung notwendigen realen Erfahrungsraums durch zu frühe Digitalisierung und Dominanz der virtuellen Welt in Schulen und Kitas.“ Der ausbleibende Schulunterricht werde große negative Folgen für die Volkswirtschaft haben. Aber für Politiker, Virologen und Intensivmediziner sei das alles weit weg.

Das Hauptproblem der Politik ist offenbar, dass sie ihren realen Kontrollverlust in Zeiten der Pandemie durch Simulation von Eifer zu kompensieren versucht. So fanden findige Journalisten – just als Bayern die Schutzmaske FFP2 obligatorisch machte und der Bund-Länder-Gipfel sie ebenfalls dringend empfahl – heraus, dass auf der Webseite des Robert-Koch-Instituts (RKI), das als Bundesinstitut zum Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums gehört, eine Warnung vor FFP2-Masken steht. Diese Masken, ursprünglich für unter Feinstaub arbeitende Handwerker und dann für medizinisches Personal entwickelt, seien nicht für die private Nutzung empfohlen. Diese Maske schütze nur, wenn sie korrekt, das heißt durchgehend und dicht sitzend getragen werde. Dazu bedürfe es einer medizinischen Einweisung und vorher einer medizinischen Vorsorgeuntersuchung, weil wegen des erhöhten Atemwiderstandes der Masken bei Menschen im höheren Lebensalter oder mit eingeschränkter Lungenfunktion mit gesundheitlichen Folgen zu rechnen ist. Auf die Frage an einen leitenden Mediziner, wie es zu erklären sei, dass trotz der Warnung des RKI Bayern so entschieden habe, sagte dieser: „Das ist das Problem, dass solche Empfehlungen einfach unabgestimmt gemacht werden von einzelnen Bundesländern.“

Der bekannte Soziologe Wolfgang Streeck problematisierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Behauptung, die Politik folge in Zeiten der Pandemie grundsätzlich „der Wissenschaft“. Welche Wissenschaft? Welche Fakten? „Für die Pandemie zuständig sind nach allgemeiner Ansicht die Virologen, deren Fakten handeln von der molekularen Struktur der Viren, nicht von der sozialen Struktur menschlicher Kontakte.“ Als ebenfalls zuständig gelten Physiker und Mathematiker, doch die „kommen ohne Fakten aus und arbeiten stattdessen mit Modellen“. Weiter stellt er fest: „Soziologen, wie ich einer bin, sind am pandemischen vaterländischen Hilfsdienst nicht beteiligt.“ So liegen all die Daten, die empirisch in den Gesundheitsämtern und anderenorts seit fast einem Jahr über Ansteckungsketten und ähnliches ermittelt wurden, unausgewertet da. Zugleich wurde es versäumt, die Zeit nach der ersten Welle im Frühjahr 2020 zu nutzen, um spezifische Schutzmaßnahmen für Alte, Kranke und vor allem Seniorenheime zu ergreifen.

Die Gründe für die vertanen Chancen und die massiven Einschränkungsmaßnahmen sieht Streeck in der inneren Logik der Politik und den Verlockungen, die „die physikalisch flächendeckende Methode der Seuchenbekämpfung der Politik bietet. Differenzierte Zumutungen bringen die Gefahr mit sich, Bevölkerungsgruppen zu nahe zu treten und als diskriminierend betwittert zu werden. Zumutungen für alle dagegen lassen sich als moralische Aufforderung zur Solidarität, zum Opfer für die Mitmenschen darstellen. Wenn differenziert gezielte Interventionen nicht zum Erfolg führen, ist die Politik schuld, die falsch gezielt hat. Wenn flächendeckende Appelle wirkungslos bleiben, waren ‚die Menschen‘ nicht solidarisch genug, sind deshalb selbst schuld und können zu Recht durch verschärftes Nachsitzen zur Räson gebracht werden.“ Deshalb vermutet Streeck, die deutsche politische Klasse werde bis zur Bundestagswahl im September einen Lockdown dem anderen folgen lassen. Danach werden die Redenschreiber, Werbeagenturen und Fernsehmenschen auf die Bevölkerung losgelassen, um ihr ein neues „Narrativ“ zu verabreichen.