Die Beziehungen Russlands zu den Vereinigten Staaten sind schlecht. Das Gleiche lässt sich über die Beziehungen Russlands zu den meisten europäischen Staaten, einschließlich Deutschlands, sagen. Über die Ursachen hierfür sind beide Seiten sich in einem Punkte einig: Die andere Seite ist schuld.
Ich habe in den letzten Jahren an zahlreichen Gesprächen mit Vertretern der russischen Regierung, früheren und aktiven Parlamentariern und führenden Vertretern von außen- und sicherheitspolitischen Denkfabriken teilgenommen. Mit den Jahren wurde die Vielfalt der Argumente bei den russischen Vertretern immer geringer, und parallel hierzu nahm die Zahl der Europäer und Amerikaner, die auf einen Neuanfang in den Beziehungen zu hoffen wagten, ab. Ich bin lange Jahre Vorsitzender der deutsch-sowjetischen und später der deutsch-russischen Parlamentariergruppe im Bundestag gewesen. Aber auch ich sehe für die nächsten Jahre keinerlei Anzeichen dafür, auf einen positiven Neuanfang in den Beziehungen zu Russland zu hoffen
Umso bemerkenswerter ist der Aufruf des „European Leadership Network (ELN)“ vom 14. Dezember 2020, der das Ziel einer Reduzierung von Nuklearkriegsrisiken verfolgt (Appeal for P5 states to reduce nuclear weapons risks). „Das European Leadership Network“ mit Sitz in London wurde im Jahre 2011 gegründet, um die Bemühungen um eine multilaterale nukleare Abrüstung zu fördern. Sein jetziger Direktor ist Sir Adam Thomson, ein ehemaliger britischer Diplomat, der während seiner aktiven Zeit als Diplomat Ständiger Vertreter Großbritanniens bei der NATO, aber auch auf Posten in Moskau war. Die Mitglieder des Netzwerkes sind überwiegend ehemalige Minister, Abgeordnete, Diplomaten, Militärs und Wissenschaftler aus Europa, einschließlich Russlands, und den USA.
Ich habe an zahlreichen Aktivitäten des Netzwerkes teilgenommen, einschließlich – natürlich vor der Corona-Krise – eines Seminars in Moskau. Daran nahmen von russischer Seite führende Vertreter von Denkfabriken und ehemalige Generäle teil. Schon damals war klar, dass die Hoffnungen, die zahlreiche russische Politiker und Vertreter von Denkfabriken auf die Wahl von Trump gesetzt hatten, sich als unrealistisch erwiesen hatten. Von der Wahl eines demokratischen Präsidenten hätten sie sich allerdings auch keine Verbesserung der Beziehungen erhoffen können.
Die Teilnehmer des Seminars konzentrierten sich deshalb darauf, Bereiche zu identifizieren, bei denen das gemeinsame Interesse der USA und Russlands so eindeutig und so offensichtlich war, dass trotz des wechselseitigen Misstrauens und trotz aller gegensätzlicher Interessen Vereinbarungen mit dem Ziel einer Verminderung von Nuklearkriegsrisiken als möglich erschienen. Nach Monaten intensiver Gespräche ist aus diesen Anfängen der jetzige ELN-Appell an die Vertreter der fünf anerkannten Nuklearmächte (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China) entstanden.
Zu den Unterzeichnern gehören neben zahlreichen russischen Vertretern die beiden früheren Repräsentanten für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU Frederica Mogherini und Javier Solana. Aus Deutschland haben neben mir als früherem Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung der NATO der frühere Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, General Naumann, und die ehemalige Vorsitzende des Unterausschusses des Bundestages für Abrüstung, Uta Zapf (MdB-SPD) unterschrieben.
Der Appell beginnt mit einem Hinweis auf die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Weltmächten und insbesondere auch zwischen den Nuklearmächten. Zusammen mit dem Prozess der Modernisierung von Nuklearwaffen und der Integration von Künstlicher Intelligenz in moderne Waffensystem würde dies an die nuklearen Kriegsrisiken erinnern. Statt ihre Arsenale zu verringern, hätten die Nuklearmächte ihre Potentiale modernisiert. Um die daraus resultierenden Gefahren zu verringern sollten die fünf Nuklearmächte eine Arbeitsgruppe bilden.
Ein kontinuierlicher Dialog über nukleare Doktrinen und Potentiale läge im Interesse der fünf Nuklearmächte genauso wie in dem der Nicht-Nuklearwaffen-Staaten. Ein Engagement zur Verringerung der nuklearen Risiken und zur Reduzierung nuklearer Potentiale könnte auch zur Verringerung der Kritik der Nicht-Nuklearwaffen-Staaten an den Nuklearmächten führen. Natürlich müsste ein derartiger Dialog in den Prozess der Vorbereitung der nächsten Überprüfungskonferenz des Vertrages üüber die Nichtverbreitung von Kernwaffen einbezogen werden.
Bereits am 6. Dezember 2020 hatte das ELN Empfehlungen der Teilnehmer eines Experten-Dialogs über die Verringerung militärischer Risiken zwischen der NATO und Russland (Recommendations from an experts’ dialogue: Deescalating NATO-Russia military risks) veröffentlicht. Diese Empfehlungen sind thematisch viel umfassender als der oben analysierte Aufruf, denn sie decken in sieben Punkten den gesamten Kontext der poltisch-militärischen Beziehungen zwischen der NATO und Russland in Europa ab. Die Empfehlungen lauten im Einzelnen:
- Erstens – Wiederbeginn eines praktischen Dialoges zwischen Russland und er NATO, einschließlich von direkten Kontakten zwischen den militärischen Kommandeuren und Experten Russlands und der Mitgliedsstaaten der NATO.
- Zweitens – Entwicklung gemeinsamer Regeln, die die Gefahr von unbeabsichtigten Zwischenfällen an Land, Luft und See verringern.
- Drittens – Erhöhung der Stabilität durch eine erhöhte Transparenz und die Vermeidung gefährlicher militärischer Aktivitäten, sowie Schaffung von Kommunikations-Kanälen, die eine Eskalation bei Zwischenfällen vermeiden könnten.
- Viertens – Nutzung (und möglicherweise Ergänzung) der NATO-Russland-Grundakte von 1997 zur Kodifizierung von Zurückhaltung, Transparenz und vertrauensbildenden Maßnahmen.
- Fünftens – Sondierung möglicher Beschränkungen für die Stationierung konventioneller Streitkräfte der NATO und Russlands in Europa, um Transparenz und Stabilität zu erhöhen.
- Sechstens – Aufnahme von Konsultationen zwischen Russland und den USA/der NATO zu den Themen Mittelstreckenraketen und ballistische Raketenabwehr, um ein neues nukleares Raketenrennen in Europa zu verhindern.
- Siebtens – Erhaltung des „Open Skies“-Vertrages.
Diese Empfehlungen wurden von 145 Wissenschaftlern, Politikern, Diplomaten und Militärs aus 20 Ländern unterschrieben. Aus Russland sind dies insbesondere Alexej Arbatow und Wladimir Baranowsky, beide vom IMEMO, Alexej Gromyko, Direktor des Europa-Instiutes, Igor Iwanow, früherer Außenminister und Präsident des RIAC, Botschafter a.D. Wladimir Lukin, der frühere russische militärische Vertreter bei der NATO, Alexander Nikitin, Direktor des Institutes für euro-atlantische Sicherheit, Sergey Rogow, akademischer Direktor des Institutes für USA und Kanada sowie Andrey Zagorski vom IMEMO
Aus den USA unterstützen die Empfehlungen bemerkenswerterweise auch viele Russland-Spezialisten, die der kommenden Biden-Administration nahestehen. So Graham Allison, früherer Assistant Secretary for Defense, John Beyrle und William Burns, beide frühere US-Botschafter in Moskau, James Bindenagel, stellvertretender US-Botschafter zuerst in Ost-Berlin, dann in Bonn. General Breedlove, früherer NATO-Oberkommandierender in Europa, William Burns, Joseph Nye, Thomas Pickering, früherer stellvertretender US-Außenminister, William Perry, früherer US-Verteidigungsminister, und Angela Stent.
Unter den deutschen Unterstützern befinden sich mehrere frühere Botschafter – wie Ulrich Brandenburg, Dieter Boden, Rüdiger Hartmann – und Generäle – wie Helmut Ganser, Rainer Glatz, Wolfgang Guensche, Kür Herrmann, Klaus Naumann, Friedrich Plöger, Rainer Schwalb. Neben ehemaligen SPD-Abgeordneten wie Ute Finck-Krämer und mir unterschrieben auch CDU-Politiker wie Ruprecht Polenz.
Es ist zu hoffen, dass sich die Biden-Administration und die russische Führung bald nach Bidens Amtsantritt auf die Verlängerung des „New-Start“-Vertrages einigen können. Dies scheint realistisch, da beide Seiten ihre Zustimmung zu einem solchen Schritt angedeutet haben.
Weitere Abkommen sind wünschenswert, jedoch – wenn überhaupt – erst nach längeren russisch-amerikanischen oder sogar multilateralen Verhandlungen denkbar. Einerseits belastet das wechselseitige Misstrauen, das aufgrund von negativen Erfahrungen auch nicht unbegründet ist, jeden amerikanisch-russischen oder amerikanisch-europäischen-russischen Neuanfang. Hinzu kommen das militärische Verhalten Russlands im Nord-Kaukasus und in der Ost-Ukraine. Aber diese Hinweise sollten letztlich kein Grund dafür sein, dort wo es im wechselseitigen Interesse sinnvoll und möglich erscheint, Projekte der Zusammenarbeit mit dem Ziel der gemeinsamen Lösung von sicherheits- und abrüstungspolitischen Problemen anzupacken.
Schlagwörter: European Leadership Network, Karsten D. Voigt, NATO, Russland, USA