Armenische Todesfugen
„Durch unsere Städte, unser Land / ziehen Mörder mit Beute und Blut / zwischen Toten und Sterbenden umher. / Krähenschwärme stieben auf, / die Schnäbel blutig, ihr Lachen trunken.“ Die Verse stammen aus dem Gedicht „Todesvision“ des armenischen Dichters Siamanto (Atom Jardschanjan). Siamanto reflektiert das Massaker an der armenischen Bevölkerung von Adana, dem im April 1909 20.000 bis 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Das war sechs Jahre vor dem Beginn des von der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches mit bis dato nicht gekannter Brutalität geführten Ausrottungsfeldzuges gegen die armenische Bevölkerung des Reiches. Ein Genozid, der an einigen Orten unter tatkräftiger Beteiligung von Kurden verübt wurde.
Auftakt war die Massenverhaftung und anschließende Deportation und Ermordung der armenischen Intellektuellen am 24. April 1915 in Konstantinopel. Wie so oft in der Geschichte richtete sich der erste Schlag gegen die geistige Elite. Siamanto, dessen zitiertes Gedicht an poetischer Kraft nicht hinter der „Todesfuge“ Paul Celans zurücksteht, gehörte zu den ersten Opfern. Sein Gedicht gab den Titel für einen Auswahlband armenischer Literatur, den Tessa Hofmann und Gerayer Koutcharian jetzt bei Donat in Bremen herausgaben. Die ausgewählten elf Autoren – den Texten ist eine kurze biographische Einführung vorangestellt – fielen mit wenigen Ausnahmen dem Genozid 1915 zum Opfer.
Der Volksliedsammler Komitas überlebte seelisch gebrochen im französischen Exil. Der hochsensible Wahan Tekejan starb 1945 in Kairo, zerrissen zwischen der Sehnsucht nach dem „Tag der Vergeltung“ („Deportation“) und dem Wunsch Ruhe „ohne Rückblick“ zu finden, „um nicht in Rachsucht zu verglühen“ („Diaspora“). Wie viele Überlebende auch der Shoah drückte ihn die „Überlebensschuld“, wie die Herausgeber schreiben. Sapel Jessajan wiederum, Autorin und Frauenrechtlerin konnte der Menschenjagd vom April 1915 in Konstantinopel entkommen, sie übersiedelte 1934 in das sowjetische Armenien. 1939 verschwand sie spurlos in Stalins Kerkern. Das mich tief berührende Bändchen schließt mit Gedichten des Dichters, Malers und Lehrers Intra (Tiran Tscharakjan). Intra fiel als Prediger der Siebenten-Tags-Adventisten 1921 den Kemalisten zum Opfer. Er starb elend bei Diyarbakir. In „Der Wunsch“ besingt Intra den geahnten Tag seines Todes: „Dann werden meine Zypressen mich betrauern, / mir nächtliche Klagelieder singen, / und die ältesten, schrecklichsten dieser Lieder / sollen euch als Morgendämmerung schluchzend glitzern.“
Bereits 2017 hatten Hofmann und Koutcharian einen schmalen Bild-Text-Band zum Genozid an den Armeniern 1915/16 herausgegeben. Man sollte sich das Bändchen nach der Lektüre der Texte aus „Todesvision“ ansehen. Die Bilder sind übermächtig. Die Gedichte erhalten eine ganz andere Dimension. Ich habe das Büchlein schweigend und von Verzweiflung ergriffen aus der Hand gelegt. Den politischen Erklärungsversuchen des jüngsten Krieges im Kaukasus kann ich keinen Glauben mehr schenken. Keiner Seite.
Tessa Hofmann / Gerayer Koutcharian (Hrsg): Todesvision. Eine Hommage an die ermordeten Dichter Armeniens (1915–1945). Übersetzt aus dem Armenischen von Gerayer Koutcharian, Nachdichtung von Tessa Hofmann, Donat Verlag, Bremen 2020, 88 Seiten, 12,80 Euro.
Dies.: Vertreibung, Verfolgung, Vernichtung. Bilder und Texte zum Genozid an den Armeniern 1915/16, Donat Verlag, Bremen 2017, 72 Seiten, 14,80 Euro.
Ein Schaffensproblem
Lieber Freund,
Du beklagst Dich, dass ich so lange nichts mehr geschrieben habe. Darüber habe ich lange nachgedacht, und nun vertraue ich es Dir an: Ich habe ein Schaffensproblem. Ich weiß jetzt, warum ich mit dem Text über diese Geschichte vor 30 Jahren nicht so recht voran komme.
Dazu ein Bespiel:
Ich bastle an einem Satz, der einen Sachverhalt abbilden soll, den ich noch nicht richtig überblicke. Ich versenke mich also in den Sachverhalt und suche in den Akten und an den Stellen, in denen er vorkommt, und finde nach einer Weile, was ich suche, wenn auch nicht alles, was ich in Erinnerung hatte.
Die Worte im Satz, die den Sachverhalt abbilden sollen, gefallen mir nun aber nicht mehr, ich erwäge andere Worte, die zwar besser sind, die aber, wie sich zeigt, nicht recht in die bisherige Satzkonstruktion passen, der Satz darf nicht so lang sein und in sich keinen Widerspruch enthalten. Aber irgendwann habe ich den Satz so, wie er sein muss. Es ist Mittagszeit, ich unterbreche.
Nach der Mittagsruhe sehe ich, dass der Satz dort nicht hinpasst, wo er jetzt steht. Ich suche eine neue Position für ihn im Text und finde sie in einem benachbarten Absatz. Eine sehr gute Lösung, ich bin zufrieden. Bevor ich mich aber einem neuen Satz zuwende, bemerke ich, dass die nun meinen zufriedenen Satz umgebenden Sätze ihm gegenüber abfallen. So geht es nicht. Ich baue sie um – bessere Verben, keine Substantiva mit -ung, -ismus, -keit, -ion, nicht länger als zehn Druckzeilen, sie sollen ja nicht nur lesbar, sondern auch verständlich sein.
Irgendwann aber ist der Absatz fertig. Beim Überlesen der Kontexte, nach der kurzen Kaffeepause, fällt mir unangenehm auf, dass der Absatz nun eigentlich überflüssig ist. Ich streiche ihn, mit Herzblut. Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen, so Max Reinhardts Geheimnis für seine Theatererfolge. Und ich denke auch nach über Nietzsche: Den Stil verbessern, heißt, den Gedanken verbessern. Welchen Gedanken? Kann man auch Sachverhalte verbessern? Ich erfahre alsbald weiter, dass nicht Max Reinhardt diesen Spruch gesprochen hat sondern Otto Brahm, ein noch früherer Theatermann. Und er soll auch nicht gesagt haben: was gestrichen ist, sondern: wer gestrichen ist. Passt das auch auf meinen Text? Darüber muss ich nachdenken.
Am Ende des Tages habe ich nichts. Aber ein bedeutendes Nichts, ein wohlüberlegtes, ein wohlabgewogenes, das mir neue Erkenntnisse gebracht hat, die voraussichtlich aber nicht weiter vermittelbar sind. Morgen werde ich einen weiteren Satz vollbringen. Wir haben ja keinen festen Abgabetermin. Dann kommt die Tagesschau. Alles über Corona.
So verläuft der Tag, ich bin immer in Zeitnot.
Ich wünsche ein ausgefülltes Jahr 2021
Ein Kommentar zur Sprachdebatte
Wenn man die gegenwärtigen Diskurse zu Sprache und Rassismus verfolgt, kann man leicht übellaunig werden. Meine lebenserfahrene Freundin Jutta hatte da einen ganz anderen Kommentar. Sie erzählte über ein vor Jahren stattgefundenes Treffen mit einem alten schwarzen Musikerfreund. Hemingway nannte der sich. Sie diskutierten am Küchentisch die Weltlage, den Rassismus und alles klang nicht so optimistisch. Fazit von Jutta: „Da sehe ich schwarz“. – Die Antwort von Hemingway kam mit breitem Grinsen:
„Ich weiß“ …
Über Freunde
Es ist gut, daß niemand fehlerfrei ist, denn er würde keinen einzigen Freund in der Welt haben.
William Hazlitt
Wenn wir Freundschaft auf eine wahre Grundlage stellen wollten, müßten wir unsere Freunde um ihrer selbst und nicht um unsertwillen lieben.
Charlotte Brontë
Unsere äußeren Schicksale interessieren die Menschen, die inneren nur den Freund.
Heinrich von Kleist
Einen sichern Freund erkennt man in unsicherer Sache.
Cicero
Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde.
Martin Luther King
Werden wir Freunde, sagte der Spion zum Gastwirt, wir haben eine Gemeinsamkeit. – Und die wäre?
Wir zapfen beide die Leitung an.
Klaus Möckel
Parteien sind Treffpunkte für Leute, die auf natürlichem Weg keine Freunde finden.
Richard Rogler
Verlorene Dinge, verblichene Erinnerungen, verwehte Gedanken, vergangene Freundschaften wiederfinden – das pure Vergnügen.
Werner Bethmann
Ältere Freundschaften haben vor neuen hauptsächlich voraus, daß man sich schon viel verziehen hat.
Johann Wolfgang von Goethe
Ein A-cappella-Song wirkt anti-depressiv
Als „Vox Pop“ bezeichnet das A-capella-Quintett Viva Voce aus dem fränkischen Ansbach ihren seit schon über zwanzig Jahren gepflegten Musikstil. Und die eigene Stimme ist ja das erste Instrument, das Kinder zu beherrschen lernen. In der Corona-Zeit hat pikanterweise das Singen den Ruch des Gemeingefährlichen bekommen: die ausgeatmeten Aerosole, gerade in geschlossenen Räumen, bedeuten eine potentielle Ansteckungsgefahr mit dem vermaledeiten Virus.
Es mag daher fast zynisch anmuten, wenn Viva Voce ihrem neuen Album den Titel „Glücksbringer“ verpasst haben. Und dabei hat die Pandemie entscheidenden Einfluss auf dieses Werk gehabt. Die Band war gerade in der Vorbereitung für eine ausgedehnte Tournee, als der Lockdown ihnen diese Pläne verhagelte.
Über eine Crowdfunding-Aktion wurde dann in dieser eigentlichen Unglückszeit das neue Album möglich gemacht. Glück im Unglück sozusagen … Die fünf Herren Bastian Hupfer, David Lugert, Heiko Benjes, Jörg Schwartzmanns und Matthias Hofmann präsentieren sehr routiniert eine dreizehn Songs umfassende Suche nach dem Glück im Großen und Kleinen.
„Wenn Du nicht weißt, wie dir geschieht, weil du so gar nicht lustig bist –
dann kommt von irgendwo ein Lied, das ganz und gar akustisch ist.“
Und die Refrainzeile in diesem Lied heißt sinnigerweise: „Ein A-cappella-Song wirkt depressiv.“
Doch in die Gute-Laune-Songs mischen sich durchaus auch nachdenkliche Worte. In dem Lied „Wurzeln und Flügel“ geht es um das sorgensüße Glück des Elternseins. Und beim Song „Bis dass man Brot uns schneidet“ geht es um das Glück des gemeinsamen Älterwerdens.
Beeindruckend ist auch die Vielzahl an Reimwörtern von „Schokolade“ in dem gleichnamigen Lied. Mein persönlicher Favorit ist aber der „Kristallkugelblues“. Hier lautet der Refrain sehr einprägsam:
„Wenn Du was ändern kannst, dann tu’s.
Sonst kriegst Du den Kristallkugelblues!“
Viva Voce: Glücksbringer, CD 2020, Label: Bauer Studios/Chaos Label, circa 16,00 Euro.
WeltTrends aktuell
Trotz medizinischer Fortschritte sind Pandemien ständige Begleiter der Menschheit, fordern nicht nur Menschenleben, sondern forcieren auch die Instabilität von Regierungen, wie derzeit in Spanien. Im Thema analysieren Kenner der spanischen Realität verschiedene Bereiche des politischen und sozialen Lebens. Sie beschränken sich nicht nur auf Fehler beim „Krisenmanagement“ und entsprechende Schlussfolgerungen, sondern versuchen auch, langfristige Entwicklungen aufzuzeigen: zu Fragen des spanischen Parteiensystems, der Immigration, der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung und der spanischen Lateinamerika-Politik.
Im WeltBlick werden die Ergebnisse der jüngsten Wahlen in Bolivienuntersucht, wo die MAS an die Macht zurückkehrte, und in Tansania, wo der „Bulldozer“ John Pombe Magufuli sich eine zweite Wahlperiode sicherte.
Auch im Gastkommentar geht es um Wahlen – die in den USA. Über seine Erfahrungen als Mitglied der wegen der Corona-Pandemie stark verringerten Wahlbeobachter-Delegation der OSZE berichtet Andrej Hunko, stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. Er verweist auf kritische Hinweise des OSZE-Berichts im Hinblick auf Defizite des US-Wahlsystems. Zugleich hätte es aber auch keine Anzeichen von systematischem Wahlbetrug gegeben.
WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 171 (Januar) 2021 (Schwerpunktthema: „Spanien in Zeiten der Pandemie“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.
Aus anderen Quellen
„Wer am 3. Oktober erkennbar die Nationalfarben (Schwarz, Rot, Gold – die Redaktion) trägt, soll kostenlos (oder zumindest zu stark reduziertem Tarif) öffentliche Verkehrsmittel benutzen können.“ Kann ein Vorschlag wie dieser tatsächlich ernst gemeint sein? Durchaus! Und überdies die Kopfgeburt einer ganzen Kommission, der kein Geringerer vorstand als der frühere Ministerpräsident von Brandenburg und nachmalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck.
Maritta Tkalec: Polit-Erziehung für den Osten mit Schwarz-Rot-Gold, berliner-zeitung.de, 10.01.2021. Zum Volltext hier klicken.
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„Dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) wurde einiges nachgesagt: Er sei schwach, zerstritten und ineffizient, quasi inexistent. Obwohl ihm zehn Länder mit 652 Millionen Einwohnern angehören – Myanmar, Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam“, konstatiert Martine Bulard. „Entsprechend gering war das Interesse, als am 12. November 2020 in Hanoi das 37. Gipfeltreffen eröffnet wurde. Drei Tage später endete der Gipfel jedoch mit einem Paukenschlag: der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit Australien, China, Südkorea, Japan und Neuseeland unter dem Namen ‚Regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft‘ (Regional Comprehensive Economic Partnership, RCEP).“
Martine Bulard: Der wichtigste Handelspakt der Welt, monde-diplomatique.de, 07.01.2021. Zum Volltext hier klicken.
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„Wo fängt man an bei Friedrich Dürrenmatt, der am 5. Januar vor 100 Jahren geboren wurde?“, fragt Petra Kohse und beginnt folgendermaßen: „Wenn Friedrich Dürrenmatt, der Pfarrerssohn aus dem Emmental, zu einer Erkenntnis gefunden hatte in seinem Leben, dann war es die: ‚Wenn es einen Gott gibt, muss er einen unendlichen Humor haben.‘ Das 1970 veröffentlichte Stück ‚Porträt eines Planeten‘ verfasste er als ‚Übungsstück für jene Menschen, die sich noch nicht an die ausweglose Situation gewöhnt haben, in der sich die Menschheit befindet.‘“
Petra Kohse: Friedrich Dürrenmatt: Vom Lachen im Angesicht der Ausweglosigkeit, berliner-zeitung.de, 05.01.2021. Zum Volltext hier klicken.
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„Die heutige Bedeutung des Wortes Verzeihung“, so Harry Nutt, „entstand im 15. Jahrhundert aus der rechtssprachlichen Verwendung, der zufolge auf einen Anspruch auf Wiedergutmachung verzichtet wurde. In der Bitte um Verzeihung wird um die Unterlassung von Vergeltung gebeten, die nicht selten tödlich endete oder zumindest die existenzielle Vernichtung zur Folge hatte. Wer sich wortreich bedankt oder um Verzeihung bittet, baut darauf, danach wieder quitt zu sein. In der gegenwärtigen Gefühlskultur deutet einiges darauf hin, dass der auffällige Durchbruch von Affekten in dem Maße zum Zuge kommt, wie die Begleichung einer Schuld zur rhetorischen Floskel verkommen ist.“
Harry Nutt: Wer um Verzeihung bittet, will meistens nur Ruhe, berliner-zeitung.de, 04.01.2021. Zum Volltext hier klicken.
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