23. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2020

Von Falken und Krähen

von Erhard Crome

Inzwischen ist klar: Joe Biden wurde gewählt. Bei der Amtseinführung im Januar 2021 ist er mit 78 Jahren der älteste Präsident, den die USA je hatten. Trotz aller Turbulenzen war es eine Trump-Wahl. Er hat polarisiert, wie kaum einer vor ihm in diesem Amt. Er hatte diese Polarisierung nicht herbeigeführt, sondern vorgefunden, sie jedoch eifrig verstärkt. Die „negative Parteiidentifikation“, von der der US-amerikanische Kolumnist Ezra Klein sprach (Das Blättchen, No. 23), spielte eine zentrale Rolle: die Niederlage der Gegenseite ist zentral. Sie wird als feindliche wahrgenommen und man gönnt ihr keinen Erfolg. So war die Wahl 2020 eine Mobilisierungswahl. 2016 wählten Donald Trump knapp 63 Millionen Menschen, Hillary Clinton fast 66 Millionen. Für 2020 hatten die meisten Demoskopen einen erdrutschartigen Wahlsieg der Demokraten vorhergesagt – der ausblieb. Tatsächlich stimmten für Trump mehr als 74 Millionen Wähler, 11 Millionen mehr als vor vier Jahren. Biden allerdings wählten über 80 Millionen Amerikaner, 14 Millionen mehr als damals für Clinton.

Auch wenn Biden beteuert, er wolle das Land wieder zusammenführen, ist seine Präsidentschaft doch Ergebnis der tiefen Spaltung des Landes, ebenso wie die Demonstrationen von Trump-Anhängern gegen das Wahlergebnis. Die Legende von der Trump „gestohlenen Wahl“ ist keine Marotte eines einzelnen, selbstverliebten alten Mannes, sondern Kalkül mit Blick auf kommende Wahlen.

Im Jahre 1994 hatten die Republikaner bei den Kongresswahlen beide Häuser gewonnen und der Clinton-Regierung durch Blockadepolitik das Regieren nahezu unmöglich gemacht. Der junge, strebsame Abgeordnete Newt Gingrich avancierte zum Sprecher des Repräsentantenhauses und erwirkte ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Bill Clinton wegen einer Affäre mit einer Praktikantin und weil der in dieser Sache gelogen hatte. Obwohl das Impeachment scheiterte, galt die Clinton-Regierung nicht nur als zu liberal, sondern nun als korrupt und unmoralisch. Barack Obamas Regierung wurde als illegitim dargestellt, weil er angeblich nicht in den USA geboren wurde. Diese Kampagne – ein Wortführer war Donald Trump – scheiterte zwar, aber für Teile der rechten Wählerschaft galt Obama, der erste schwarze Präsident der USA, als zu Unrecht im Weißen Haus. Die Demokraten drehten 2016 den Spieß um und erklärten die Trump-Regierung für illegitim, weil angeblich russische Hacker über das Internet das Wahlergebnis manipuliert hätten. Das diesmal von den Demokraten gegen den republikanischen Präsidenten angestrengte Impeachment-Verfahren scheiterte ebenfalls, doch das Odium des Unsauberen gab Trumps Gegnern Auftrieb. So ist jetzt die Biden-Administration die vierte US-Regierung, die der Gegenseite des politischen Spektrums als illegitim gilt.

Im Bundesstaat Georgia finden am 5. Januar 2021 Nachwahlen zu den zwei noch offenen Sitzen im US-Senat statt. Sollten die Republikaner obsiegen, wird es wieder eine republikanische Senatsmehrheit, nun gegen Biden geben, die seinen Projekten enge Grenzen setzt und eine neuerliche Blockadepolitik ermöglicht, wie einst gegen Clinton und Obama. Inzwischen sind innerhalb der Demokratischen Partei die Differenzen, die durch die Gegnerschaft zu Trump überdeckt waren, wieder offen aufgebrochen. Biden erreichte zwar eine Mehrheit der Wahlmänner-Stimmen, doch gab es Verluste der Demokraten im Repräsentantenhaus und im Senat erscheint eine Mehrheit äußerst ungewiss. Alexandria Ocasio-Cortez, ins Repräsentantenhaus wiedergewählte und bei jungen Wählern an den Küsten beliebte Ikone der Linken, monierte, vor allem „junge Einwanderer-Aktivisten“ hätten in mehreren Bundesstaaten die Wahlen entschieden. Dennoch hätte das Übergangsteam von Biden mit der Agenda des progressiven Flügels der Partei nichts gemein. Das sei eine Missachtung derer, die Biden den Wahlsieg beschert hätten. Die Parteiführung sei – so sagte sie der New York Times – durch eine „antiaktivistische Stimmung“ geblendet und gebe den Linken die Schuld, dass der große Durchbruch der Demokraten ausblieb.

Aufschlussreich ist, dass bei all diesen Auseinandersetzungen innerhalb der Demokraten viel von Corona, Gesundheitsversicherung, „Sozialismus“ und Einwanderungsfragen die Rede war, jedoch nicht ernsthaft von der Außenpolitik. Auch wenn eine Minderheit der Delegierten des Demokraten-Parteitages ein „neues außenpolitisches Team“ gefordert hatte. Man könnte es auch so formulieren: Trump wurde immer wieder vorgeworfen, er hätte Halluzinationen und leide unter Verfolgungswahn, wenn er von Intrigen des „Tiefen Staates“ in Regierung und Kongress und bis ins Weiße Haus sprach. Tatsächlich haben die interventionistischen Globalisten, die vom Ende des zweiten Weltkrieges bis 2017 offen und ungeniert das Land regiert, sich weltweit in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eingemischt und gern Regime-Change-Kriege geführt haben, eine obstruktive Hinhaltetaktik geübt, um die Trump-Jahre auszusitzen und sich nun von den linken und alternativen Kräften wieder in die maßgeblichen Machtpositionen tragen zu lassen. Der außenpolitische Teil der politischen Kaste in Deutschland freut sich schon auf die alten Bekannten.

Hier ist es durchaus angezeigt, sich Positionen des neu-alten Personals anzuschauen. Die meisten Personen, die für die außenpolitischen und Sicherheits-Bereiche nominiert wurden oder in Rede stehen, waren bereits unter Obama an dessen Kriegspolitik beteiligt. Zunächst Joe Biden. Als Vizepräsident der Obama-Regierung hatte er am 2. Oktober 2014 vor Studenten der Harvard-Universität die Außenpolitik der Regierung erläutert. Die USA waren dabei, die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands zu lösen und in den des Westens einzuordnen. Bidens Sohn Hunter machte gerade seine Geschäfte in der Ukraine. Originalton Biden: „Wir haben Putin vor die einfache Wahl gestellt: Respektieren Sie die Souveränität der Ukraine oder spüren Sie zunehmende Konsequenzen. Dadurch waren wir in der Lage, die größeren der entwickelten Staaten dazu zu bringen, Russland wirkliche Belastungen aufzuerlegen. Es ist wahr, dass sie das nicht tun wollten. Aber wiederum war es die Führungsrolle Amerikas und das Insistieren des Präsidenten der Vereinigten Staaten, mehrmals Europa fast bloßstellen zu müssen, sich zu erheben und wirtschaftliche Nachteile einzustecken, um Belastungen aufzuerlegen. Und die Folgen waren eine massive Kapitalflucht aus Russland, ein praktisches Einfrieren von ausländischen Direktinvestitionen, der Rubel auf einem historischen Tiefststand gegenüber dem Dollar, und die russische Wirtschaft an der Kippe zu einer Rezession.“

Die Sprecherin der damaligen EU-Außenministerin Catherine Ashton heuchelte zwar: „Die EU hat autonom und einstimmig die Verhängung der Sanktionen gegen Russland beschlossen“. Gleichwohl war klar, dass die deutsche Wirtschaft bereits damals „Sanktionen“ gegen Russland nicht wollte und deren Spitzenvertreter Kanzlerin Merkel nur widerwillig zugesagt hatten, sich dem „Primat der Politik“ unterzuordnen. Dies jedoch ist die Politik, die Deutschland und Europa mit einem Präsidenten Biden wieder bevorsteht. Es wird nicht besser mit den „transatlantischen Beziehungen“, nur anders. War für Trump China der Hauptfeind und Russland nachgeordnet, so ist es jetzt umgekehrt.

Der designierte Außenminister Antony Blinken war unter Clinton Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates, diente in der Obama-Regierung als stellvertretender Außenminister und als Sicherheitsberater des Vizepräsidenten Biden. Er gilt als Mann des außenpolitischen Establishments der USA, setzt, wie es heißt, auf außenpolitische Allianzen und glaubt an die Rolle der USA als „globale Ordnungsmacht“. Das bestätigt im Kern die Wahrnehmung, die Präsidentschaft Biden werde als „3. Präsidentschaft“ von Obama funktionieren. Auf dem berühmten Bild, das zeigt, wie die Spitzen der Obama-Regierung am Bildschirm gebannt live der Ermordung Osama Bin Ladens beiwohnen, steht er hemdsärmelig im Hintergrund. Obamas Außenminister John Kerry soll Sondergesandter für Klimaschutz werden und als solcher auch Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates.

Im Gespräch als Verteidigungsministerin war zunächst eine Frau, Michèle Flournoy. Sie diente ebenfalls bereits unter Bill Clinton, in gehobener Position im Pentagon und arbeitete an der Verteidigungsplanung der USA mit, um den Weg für die endlosen und kostspieligen weltweiten Kriege der USA zu öffnen. In der Obama-Administration war sie Staatssekretärin im Verteidigungsministerium und trug dazu bei, dass sich die USA von dem in der UN-Charta verankerten Verbot der Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt verabschiedet haben. Sie meinte, „dass wir, wenn vitale Interessen auf dem Spiel stehen, alles tun sollten, um sie zu verteidigen, einschließlich, wenn nötig, der einseitigen Anwendung militärischer Gewalt“. Bereits im Juni 2002, als sie am Center for Strategic and International Studies (CSIS), einem militärpolitischen Think Tank in Washington D.C. arbeitete, forderte sie, die USA sollten „schon vor einer Krise präventiv zuschlagen […], um die Waffenlager eines Gegners zu zerstören“. Das war der Höhepunkt der Kriegspolitik von Präsident George W. Bush, der Afghanistan-Krieg lief bereits, der Irak-Krieg stand kurz bevor, und sie redete dem das Wort. Mit solchen Positionen werden Regime-Change-Kriege wieder wahrscheinlicher. Auserwählt als Chef des Pentagon wurde dann allerdings entgegen den Erwartungen Lloyd J. Austin, ein pensionierter Vier-Sterne-General, der im Irak-Krieg eingesetzt und unter Obama Kommandeur des CENTCOM war, des Regionalkommandos der US-Streitkräfte, das für den Nahen Osten, Ostafrika und Zentralasien zuständig ist.

Mit Biden kehren die „Falken“ zurück an die Macht. In den Debatten um die Kriege des Westens wurden bisher immer zwei Vögel aufgerufen: „Tauben“ und „Falken“. Deshalb gab es auf die Tatsachenfeststellung, dass Trump im Unterschied zu allen seinen Vorgängern seit dem Kalten Krieg, gar seit Jimmy Carter keinen neuen Krieg angezettelt hat, immer das Argument, er habe den Rüstungshaushalt aufgebläht, Drohkulissen aufgebaut und verstärkt Waffen exportiert, insbesondere an das im Jemen kriegsführende Saudi-Arabien; Trump sei mithin „keine Taube“.

Wir sollten in die Kollektion der Metaphern eine dritte Vogelart einfügen: die Krähen. Sie sind schlau und fressen auch Aas. Vielleicht sind sie die Vögel des MAGA (Make America Great Again). Sie hockten bereits auf dem Kadaver der US-amerikanischen Vorherrschaft und waren dabei, die Überreste zu fressen. Jetzt kommen die Falken zurück und vertreiben die Krähen. Sie werden den Kadaver aber nicht zu neuem Leben erwecken können. Und die Krähen wissen, ihre Zeit kommt wieder. Das kann man in jedem Herbst über den kühlen Feldern sehen.