23. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2020

Nietzsche und die Folgen

von Mathias Iven

Woher rührt eigentlich Nietzsches Berühmtheit? Zu seinen Lebzeiten wurden seine Bücher nur von einigen Wenigen zur Kenntnis genommen. Sie waren weder für den Autor noch für den Verleger ein Geschäft. Doch schon bald nach seinem geistigen Zusammenbruch änderte sich die Situation. Im Januar 1895 hielt Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch fest: „Es giebt wohl heute in Deutschland keinen leidlich gescheuten studierten oder gebildeten Mann von zwanzig oder dreissig Jahren, der nicht Nietzsche einen Teil seiner Weltanschauung verdankte oder doch mehr oder weniger von ihm beeinflusst wäre.“ Der entscheidende Impuls für diese, die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts bestimmende Entwicklung kam von Nietzsches Schwester Elisabeth. Sie oder besser gesagt ihr Anteil an der „Vermarktung“ ihres Bruders ist das Thema des aktuellen Jahrbuchs der Klassik Stiftung Weimar.

Unter dem beziehungsreichen Titel „Kult – Kunst – Kapital“ versammelt das Jahrbuch insgesamt 13 Beiträge, die zu einem Großteil dem von Thorsten Valk in seiner Einleitung skizzierten Gedankenexperiment folgen: „Es ist reizvoll, sich für einen Augenblick auszumalen, wie Nietzsches Resonanzgeschichte im 20. Jahrhundert verlaufen wäre, wenn seine Schwester nach dem Tod ihres Mannes Bernhard Förster in Paraguay geblieben wäre und kein Nietzsche-Archiv gegründet hätte.“

Mit der Eröffnung des Archivs am 2. Februar 1894 erklärte sich Elisabeth Förster-Nietzsche zur alleinigen und einzig legitimen Hüterin von Nietzsches Nachlass. Es war der Beginn einer beispiellosen, vier Jahrzehnte währenden Nachlasspflege und Memorialpolitik. Nietzsche musste, so Valk, „als Klassiker etabliert und zum Gegenstand einer populären Gedenkkultur gemacht werden, die sich von der primär philosophischen Auseinandersetzung abkoppeln lies“. Im August 1896 verlegte Elisabeth den Sitz des Archivs von Naumburg nach Weimar, wo kurz zuvor das Goethe- und Schiller-Archiv eröffnet worden war – Vorbild für ihre eigenen Pläne. Als die Mutter im Jahr darauf starb, holte Elisabeth ihren Bruder in die Klassikerstadt. In den Räumen der ihr von Meta von Salis ab 1. Juli 1897 zur Verfügung gestellten Villa Silberblick wurden nur ausgewählte Besucher zu dem Dahinsiechenden vorgelassen. Schon früh erkannte Elisabeth, dass die Arbeit an der Verbreitung der Werke ihres Bruders mit einer strikt organisierten Bildpropaganda einhergehen musste – man denke an die zu Ikonen gewordenen künstlerischen Darstellungen von Curt Stoeving, Siegfried Schellbach, Hans Olde oder Edvard Munch. Thorsten Valk konstatiert: „Binnen eines Jahrzehnts war aus dem in der Öffentlichkeit fast gesichtslosen Philosophen ein visuell omnipräsenter Star geworden, dessen eindringliche Physiognomie einen hohen Wiedererkennungseffekt hatte und zum Markenzeichen zu werden versprach.“

Mit Nietzsches Tod im August 1900 wurde die von der Villa Silberblick ausgehende Aura übermächtig. Mehr und mehr wurde das Haus zu einem Wallfahrtsort, an dem man sich der geistigen Gegenwart des verstorbenen Philosophen vergewissern wollte. Eine besondere Rolle spielte dabei Harry Graf Kessler. Kerstin Decker sieht ihn nicht nur als den „Stratege[n] zur Umwandlung des Weimarer Südhügels in einen Tempelberg“, sondern vor allem als den „Beförderer sakralarchitektonischer Absichten“. Und nach Auffassung von Hansdieter Erbsmehl war er es, der gemeinsam mit Henry van de Velde und Elisabeth Förster-Nietzsche nichts Geringeres anstrebte, „als über die Zukunft der ästhetischen und künstlerischen Moderne in Deutschland zu bestimmen“.

Ganz anders sah es hingegen in Röcken aus, wo Nietzsche am 28. August 1900 neben seinen Eltern und seinem noch im Kindesalter verstorbenen Bruder beerdigt wurde. Ralf Eichberg beschreibt die in Nietzsches Geburtsort nach dessen Tod gepflegte Gedenkkultur als „familiär und betulich“. Will heißen: Man kümmerte sich einfach nicht darum. Wie aus dem Schriftverkehr zwischen dem Nietzsche-Archiv, dem Pfarramt Röcken, dem Regierungspräsidium in Merseburg und dem Preußischen Hochbauamt hervorgeht, ließen Ordnung und Sauberkeit auf dem Gelände der Grabanlage zu wünschen übrig, es wurde gar von Verwahrlosung der Grabstätte gesprochen. Eichberg meint dazu: „Wie sehr hätte sich Nietzsche darüber amüsiert, dass das weihevolle Angedenken an seine Person immer wieder von Gänsen, Hühnern und Hunden unterbrochen wurde, zumal ebendiese Tiere auch sein Werk bevölkern.“

Auch Elisabeth Förster-Nietzsche, die am 8. November 1935 in Weimar verstorbene „Herrin des Archivs“, fand ihre letzte Ruhe in Röcken. Eine bereits kurz nach ihrem Tod ins Auge gefasste, Geburtshaus und Taufkirche einbeziehende Umgestaltung des Gedenkensembles im Sinne der NS-Propaganda kam glücklicherweise nie zur Ausführung. Bis heute sind Besucher allerdings irritiert durch die dominierende und durch nichts zu rechtfertigende Platzierung ihres Grabes zwischen dem des Bruders und des Vaters.

Ulrike Lorenz /Thorsten Valk (Herausgeber): Kult – Kunst – Kapital. Das Nietzsche-Archiv und die Moderne um 1900 [Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2020], Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 388 Seiten, 28,00 Euro. Online abrufbar auf der Seite der Klassik Stiftung Weimar.