Die Wahl vom 3. November 2020 war die wichtigste in der Geschichte der USA seit 1860. Damals stellte der Sieg Abraham Lincolns, der für die Republikaner kandidiert hatte, über die in der Sklaven-Frage gespaltenen Demokraten die Weichen in Richtung auf Abschaffung der Sklaverei. Es folgte der vierjährige blutige Bürgerkrieg. Seitdem hatte die Republikanische Partei unter der schwarzen Bevölkerung bis 1964 einen höheren Wähleranteil als die Demokraten. Doch die Nominierung des Rassisten Barry Goldwater zum Präsidentschaftskandidaten machte die Südstaaten zum dauerhaften Wählerreservoir für die Republikaner, auch wenn Goldwater diese Wahlen deutlich gegen den Demokraten Lyndon B. Johnson verlor. Die seitdem geläufige Landkarte hat sich insgesamt kaum verändert: Der Süden und große Teile der Staaten zwischen Mississippi und Rocky Mountains stimmten für republikanische Kandidaten, die Wähler in den Staaten an beiden Küsten bevorzugten die Demokraten, die Swing-States des Mittleren Westen waren und sind besonders umkämpft.
Bei der Wahl „Trump gegen Biden“ ging es erstmals um die Frage: Bleibt die parlamentarische Demokratie erhalten oder kann Donald Trump den Umbau des politischen Systems in Richtung eines autoritären Staates vorantreiben, der die Rechte der Legislative zugunsten der Exekutive und der Judikative beschneidet? Die Wähler entschieden zugunsten der Bewahrung der bürgerlichen Demokratie.
Ein genauerer Blick auf das Wahlverhalten einzelner Gruppen zeigt aber, dass nicht alle gängigen Erklärungsmuster zutreffen. Kaum überraschend ist, dass die Frauen mehrheitlich – zu 56 Prozent – für Joseph Biden stimmten, das sind zwei Prozentpunkte mehr als sie 2016 Hillary Clinton erhielt. Bei den Männern, die damals zu 53 Prozent Trump wählten, blieb der Anteil diesmal fast gleich. Ältere Wähler stimmten wie 2016 mehrheitlich für Trump.
Bei Wählern mit College-Abschluss lag Joe Biden vorn (55:42, der Rest der Stimmen fiel auf weitere Kandidaten). Bei Wählern ohne College-Abschluss lagen beide Bewerber gleichauf. Unter großstädtischen Wählern lag Biden klar mit 60:37 Prozent vorn, bei Wählern aus Mittel- und Kleinstädten oder Vororten führt er knapp mit 51:48 Prozent, bei ländlichen Wählern punktete Trump (54:45). Die finanziell besser gestellten Wähler votierten deutlich mehrheitlich für Trump. Die wirtschaftliche Lage war vor der Corona-Pandemie das wichtigste Thema für die Wahlentscheidung.
Diese Zahlen sind im Bereich des Erwarteten, doch sorgt ein Blick auf die Demographie für Überraschungen. Zunächst: Die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung veränderte sich leicht zuungunsten der Weißen: 67 Prozent im Jahre 2020 gegenüber 69 vor vier Jahren. Dagegen legte der Anteil von Schwarzen und Hispanics um je ein Prozent zu – jeweils von 12 auf 13 Prozent.
Biden lag bei Schwarzen mit 87, bei Hispanics mit 66 und bei Amerikanern asiatischer Herkunft mit 70 Prozent vorn, bei Weißen dagegen mit 42 Prozent (gegenüber 57 für Trump) hinten. Zum Vergleich: Weiße wählten 2016 ebenfalls zu 57 Prozent Trump, 89 Prozent der Schwarzen und 66 Prozent der Hispanics stimmten für Clinton. Amerikaner asiatischer Herkunft votierten 2016 zu 65 Prozent für Clinton. Die Umfragewerte verschiedener Quellen stimmen dabei nicht immer überein.
Juden wählten zu 77 Prozent Joe Biden, Clinton hatte 2016 nur 70 Prozent der jüdischen Stimmen erhalten. Dieser starke Zuwachs war auch ein Votum gegen Trumps Schulterschluss mit rechtextremen Kräften in Israel. Die jüdischen Stimmen dürften in Swing-Staaten des Mittleren Westens wie Michigan und Wisconsin mit ihren großen Universitäten wesentlich zum Wahlausgang beigetragen haben. Zudem waren diese beiden Staaten von der Corona-Pandemie besonders betroffen. Auch das wirkte sich auf das Wahlverhalten aus. Im „Rentnerparadies“ Florida, einem weiteren großen Universitätsstandort, erreichte Trump unter Juden und Hispanics eine Mehrheit.
Dem amtierenden Präsidenten gelangen unerwartete Stimmengewinne in Bevölkerungsgruppen, in denen dies nicht möglich schien. Bei den Schwarzen konnte er die absolute Zahl seiner Unterstützer um zwei Prozent steigern, da ihn dort acht Prozent (2016 vier Prozent) der Frauen wählten. Auch bei den Männern legte er leicht zu. Das Wählerpotenzial der Republikanischen Partei reicht demnach auch in diese Bevölkerungsgruppe hinein, was durchaus ein Wink für die Zukunft ist.
Einen explosionsartigen Zuwachs von 14 auf 28 Prozent verzeichnete Trump in der sogenannten LGBT-Community (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender). Der frühere USA-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, hatte intensiv in dieser Gruppe geworben. Am höchsten lag der Trump-Anteil mit 33 Prozent in Georgia, dessen Hauptstadt Atlanta eine Hochburg dieser Community ist. Die Verdoppelung des Stimmenanteils in einem Segment, das als immun gegenüber der chauvinistischen Rhetorik Trumps galt, ließ die mit den Demokraten verbundenen Analysten ratlos zurück.
Wer nach tieferen Ursachen dafür sucht, sollte über die Fallen der sogenannten Identitätspolitik nachdenken. Es war und ist diese von Intellektuellen aus dem Umfeld der Demokraten forcierte Politik, die in Nicht-Weißen und sexuellen Minderheiten nicht nur Menschen sieht, die es vor Diskriminierung zu schützen gilt, sondern die ihre sexuelle Orientierung oder ihre Herkunft zum zentralen Punkt ihres Menschseins macht. Diese Menschen werden darauf in einem Maße reduziert, das unter ihnen ablehnende Reaktionen hervorrufen kann und manche zur Stimmabgabe für Trump bewog, denn vor einem andauernden Identitätsdiskurs sind sie im Umfeld seiner Anhänger ziemlich sicher.
Welche verlogenen Botschaften Trump auch immer über Twitter sendet, in der Verkündung seiner Ziele ist er so ehrlich, wie seine autoritäre Show diesen Zielen entspricht. Ökonomisch abgesicherte Liberale, die ständig über politisch korrekte Sprache, doch kaum über Klassenverhältnisse reden, wirken angesichts dessen wenig glaubwürdig. Dabei gehört der „class struggle from above“, der Klassenkampf von oben, durchaus zum ungeniert gebrauchten Vokabular der Superreichen – auch in der Öffentlichkeit, nicht nur im eigenen Kreis. Die oft hemmungslose, andere Menschen herabsetzende Wortwahl Trumps entspricht genau dieser Denkweise. Sie appelliert an autoritäre Strukturen der Persönlichkeit, vor denen Angehörige der Minderheiten so wenig gefeit sind wie die Mehrheitsgesellschaft. Im Gegenteil: Gerade ganz auf die Karriere fixierte Gruppen unter Minderheiten verinnerlichen Prinzipien des Sozialdarwinismus.
Zu den Lehren der jüngeren Geschichte gehört auch die Erkenntnis, dass der Kapitalismus in den USA den Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat zwar nicht beseitigen, ihn aber einebnen konnte. Das Industrieproletariat in den USA ist im Zeichen einer sich dramatisch wandelnden Arbeitswelt im Niedergang und im 21. Jahrhundert nicht mehr der „natürliche“ Widerpart des Kapitals, wenn es um Erzeugung, Aneignung und Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Mehrproduktes geht. Das umfasst heute materielle wie auch immaterielle Güter. An seiner Erzeugung sind abhängig Beschäftigte und Scheinselbstständige verschiedener Klassen und Schichten beteiligt. Sie, zu denen auch prekär beschäftigte Intellektuelle gehören, gilt es zusammenzuführen, denn viele Klassenwidersprüche bestehen fort und neue sind entstanden. Wie schwer das ist, haben Erfolge und Niederlagen von Bernie Sanders gezeigt, der genau dies begriffen hat und strategisch ein solches Bündnis anstrebt. Daran gilt es anzuknüpfen. Denn wahr ist auch: Ohne sein Missmanagement in der Corona-Krise hätte Donald Trump die Wahl gewonnen. Trotz aller Erleichterung über Joe Bidens Wahlerfolg – die Kräfte, die Trump 2016 siegen ließen, bleiben potenziell mehrheitsfähig. So gilt auch hier: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
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