23. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2020

Kehrtwende oder weiter stramm rechts?

von Jan Opal, Gniezno

Unwichtig ist, wie bei den Wahlen am 12. Juli nachgeholfen wurde. Wichtig ist, dass sich das Lager um Jarosław Kaczyński offensichtlich übernommen hatte, als es Andrzej Duda mit allen vorhandenen Kräften und greifbaren Mitteln zu einer zweiten Amtszeit als Polens Präsident verhalf. Seither schlingert das nationalkonservative Schiff von einer unliebsamen Überraschung zur nächsten, einzig der untrügliche Reflex ist geblieben, den äußeren Feind schnell auszumachen und gegen ihn zusammenzustehen. Nun haben Polens Nationalkonservative obendrein den wichtigsten außenpolitischen Rückhalt verloren, auch wenn der zu großem Teil immer ein eingebildeter gewesen sein mag. Joe Bidens Sieg gegen Donald Trump kommt für das Regierungsschiff einer Aufforderung zur Kehrtwende gleich. Noch sträuben sich allerdings die Kaczyński-Leute nach Kräften, das Ruder herumzuwerfen. Der Kapitän bleibt fest entschlossen, wiewohl er den klaren Kurs nicht mehr weisen kann. Und wieder beginnen Leutchen in der ersten Reihe zu tanzen, die für partikulares Parteiinteresse das ganze Land in Geiselhaft zu nehmen drohen.

Frühzeitig hatte Justizminister Zbigniew Ziobro – zugleich Generalstaatsanwalt – angekündigt, er werde nicht zulassen, dass Ministerpräsident Mateusz Morawiecki dem neuen Haushalt der Europäischen Union zustimme, wenn der an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern gebunden ist. Die Rechtsstaatlichkeit, so der kampfbereite Minister, werde nur vorgeschoben, vielmehr gehe es Brüssel um institutionelle und politische Knebelung, um radikale Einschränkung der Souveränität. In der Logik dieser Richtung würde Polen, wenn es jetzt nachgäbe, aufhören, eine unabhängige Republik zu sein, würde zur aus Brüssel verwalteten Provinz degradiert. Die so fürchterlich bedrängte nationale Souveränität ist auf der rechten Flanke ohnehin ein Reizthema, weil Polen mit dem Beitritt zur Gemeinschaft ja tatsächlich bestimmte Souveränitätsrechte abgegeben hat. Leute wie Ziobro vertreten politisch immer entschiedener jenen radikalen Rand im Land, der unter solchen Bedingungen aus der EU austreten will. Denen sind nationale Unabhängigkeit und Souveränität allemal wichtiger als jeder Brüsseler Gemeinschaftsgroschen.

Kaczyński blickt weiter voll voraus, glaubt an die Mär, dass sich die Gemeinschaft ändern werde, dass die anderen begreifen würden, wie sehr Polen im Recht sei, wenn es sich gegen all die Zumutungen aus Brüssel zur Wehr setze. Polen, so der strategisch denkende Mann in ganzer Überzeugung, tue das uneigennützig für alle anderen: Für unsere und eure Freiheit! Und so wird in den Regierungsmedien kolportiert, Berlin und die anderen Hauptstädte, die es unterstützten, verfolgten mit dem neuen EU-Haushalt lediglich schnödes partikulares Interesse, ganz anders eben als Warschau oder Budapest mit ihrer Vetohaltung. Ganz entfernt erinnert die störrische Haltung sogar an die von Erich Honecker, der in den letzten Herrschaftsjahren immer noch überzeugt war, den richtigen und wahrhaften Sozialismus zu vertreten, nicht aber die Genossen in Moskau oder anderswo. Dass das staatssozialistische Schiff bereits Schlagseite hatte und wohl unrettbar verloren war, soll hier unbeachtet bleiben, denn die EU ist heute – trotz des Auszugs der Engländer – wohl doch in einer anderen Situation als das wirtschaftlich bereits angeschlagene Sowjetlager von einst.

Eine dritte einflussreiche Gruppe im Regierungslager will die EU-Mitgliedschaft in keiner Weise gefährden, weiß um die fundamentale Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung, die ja so etwas wie das letzte starke Argument der nationalkonservativen Regierung geworden ist, nachdem reaktionäre Geschichtspolitik und die angemaßte Verteidigung der Fundamente westlicher Zivilisation immer weniger fruchten. Insofern fällt Morawieckis Lavieren auf, der – soweit überhaupt noch möglich – auf Zeit spielt, einen Weg sucht, wie er ungeschoren aus der verfahrenen Situation herauskommen könnte. Ein bisschen hofft er auf Viktor Orbán, der in Brüssel in der einflussreichen christlich-konservativen Europapartei sitzt, ein bisschen hofft er auf ein Nachgeben der Hardliner in der eigenen Regierung und ein bisschen rechnet er mit der in „Europa“ gewachsenen diplomatischen Kunst, drohendem Gesichtsverlust, egal auf welcher Seite, geschickt aus dem Weg zu gehen. Noch meint er felsenfest, den zu erwartenden Spagat – hier Kaczyński-Warschau, dort Brüssel – aushalten zu können. Er erklärte jüngst im Sejm sein „Ja zur EU“, sein „Nein zu Mechanismen, die uns wie kleine Kinder abstrafen“. Er beteuerte im Zusammenhang mit dem an Rechtsstaatsmechanismen gebundenen EU-Budget, dass Polen jeden Euro des Fördergeldes gewissenhaft abrechnen werde, aber es werde sich nicht einlassen auf das Spiel mit Souveränität, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Morawiecki schließlich: Wir kämpfen gleichermaßen für Polen und für die Zukunft der EU, die in ihrem jetzigen Zustand allerdings wohl keine Zukunft mehr habe – die EU sei nicht mehr dieselbe wie 2004, als Polen ihr beitrat.

Donald Tusk hat versucht, die dramatische Situation so auf den Punkt zu bringen: Wer wird wen nun schneller voneinander trennen – Kaczyński uns Polen von der EU oder die demokratischen Kräfte Polens das Kaczyński-Lager von den Regierungsbänken? Dahinter steht die Befürchtung, dass mit Kaczyński eine Kehrtwende nicht mehr zu erwarten ist. Noch kann der Kapitän seine Getreuen auf die Brücke rufen, doch mehren sich die Zeichen, dass für die schwere See, in die Kaczyńskis Regierungslager nun unweigerlich geraten wird, das nationalkonservative Schiff nicht mehr ausreichend gerüstet ist. Allerdings lehrt die Geschichte, wie zäh und lang solche Prozesse sich noch hinziehen können. Immerhin verfügt das Kaczyński-Lager nach wie vor über die absolute Mehrheit im Sejm, über den Staatspräsidenten und stellt außerdem die Alleinregierung. Doch wie hieß es einst lakonisch an der Stelle, an der kein Weiterkommen mehr war? Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!