23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Im Oktobersturm der Frauen

von Jan Opal, Gniezno

Fällt er oder fällt er nicht? Die Frage ist längst noch nicht entschieden. Doch die Massenproteste polnischer Frauen Ende Oktober haben gezeigt, dass der noch immer mächtigste Mann des Landes politisch in der Klemme sitzt, aus der nur noch schwer herauszukommen sein wird. Jarosław Kaczyński gleicht immer mehr dem Kapitän auf der Steuerbrücke, der ohnmächtig zusehen muss, weil die Befehle der Brücke, um das Schiff auf Kurs zu halten, kaum noch das bewirken, was beabsichtigt ist. Seine letzten öffentlichen Auftritte verrieten einen Mann, der die Welt nicht mehr zu verstehen scheint. Er sprach vom Untergang Polens, der drohe, wenn auf den Straßen des Landes der Weg von Anarchie und Protest fortgesetzt werde. So gleichermaßen drohend wie verzweifelt der Mann, der als Regierungsmitglied ohne Geschäftsbereich seit kurzem für Militär, Polizei und Justiz in besonderer Weise zuständig sein will.

Doch Kaczyński kann nicht einfach beiseitegeschoben werden, niemand im Regierungslager wäre derzeit dazu in der Lage oder brächte auch nur den Willen dazu auf. Der ausgehende Sommer hatte noch einmal gezeigt, wie zerstritten der von Kaczyński geführte Haufen eigentlich ist. Eine Fronde – egal von wem angezettelt, ob vom Ministerpräsidenten, Staatspräsidenten oder einem der einflussreicheren Minister – ist momentan ausgeschlossen. Das rettet Kaczyński nun den Kopf, dennoch stimmen in den Führungsetagen der Nationalkonservativen wohl die meisten wenigstens darin überein, dass der Anführer einen schweren politischen Fehler begangen hat, als er das nationalkonservativ kontrollierte Verfassungstribunal drängte, nun hinterrücks über das Abtreibungsrecht zu befinden.

Julia Przyłębska, die mit Kaczyńskis Unterstützung auf den Posten der obersten Verfassungsrichterin klettern konnte, entschied wie gefordert: Eine seit 1993 geltende gesetzliche Regelung über den legalen Schwangerschaftsabbruch widerspreche der Verfassung. Die Regelung war ohnehin eine der restriktivsten in Europa, so dass pro Jahr offiziell nur etwa 1000 klinische Eingriffe dieser Art in Polen vorgenommen werden können. Verfassungsrichterin Przyłębska bezog sich bei der Begründung ihres Verdikts auf den Verfassungsartikel, der in der Republik Polen jedem Menschen den rechtlichen Schutz des Lebens zusichere. Daraus schlug sie in einer kecken Volte ein unbedingtes Recht auf den Schutz des menschlichen Lebens, das nach erzkonservativer Lesart bereits mit der befruchteten Eizelle beginne. Schwangerschaftsabbrüche wären somit nur noch im Zusammenhang mit Vergewaltigungen und bei Gefahr für das Leben der werdenden Mutter zulässig.

Seit dem Machtantritt der Nationalkonservativen rollt eine von einflussreichen Kreisen der katholischen Kirche befeuerte Kampagne durchs Land, in der auf militante Weise gegen die „Zivilisation des Todes“ zu Felde gezogen wird. Zweimal musste Kaczyński dann nach heftigen Frauenprotesten bereits abgesegnete Pläne gegen die geltende Abtreibungsregel zurückziehen, nun nutzte er in der Deckung der wieder um sich greifenden Corona-Krise die Gelegenheit, um doch noch ans Ziel zu gelangen.

Ohne den enormen, verlässlichen Rückhalt durch die katholische Kirche wäre die lange Zeit der nationalkonservativen Regierung überhaupt nicht denkbar, längst wäre die Kaczyński-Truppe abgewählt. Noch nie seit 1990 hatten sich die höchsten Kirchenkreise so eindeutig festgelegt, wenn es um die zur Wahl stehenden politischen Optionen ging. Die kalte Schulter wurde der liberalen und linken, also weltoffenen Seite gezeigt. Die feste Hand wurde demjenigen gereicht, der lauthals den bedingungslosen Schutz der christlichen Fundamente der Zivilisation und die Bewahrung von nationaler Identität und Souveränität behauptete. Dazu gehört dann aber unweigerlich das Dogma vom Beginn des Menschenlebens nach erfolgter Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, dem die staatliche Seite entsprechend Rechnung zu tragen habe.

Der Druck im Kessel hatte zuletzt stark zugenommen, die seit Sommer wieder zunehmenden und erschreckenden Ausfälle gegen die sogenannte Gender-Ideologie zeigten das an. Plötzlich waren Gender und Feminismus gefährliche Spielarten des teuflischen Neomarxismus, mit dem angeblich die Fundamente von Zivilisation und Nation unterspült würden. Kaczyński kündigte verwegen an, vor niemandem in Brüssel bei den für Polen so heiligen Fragen noch in die Knie zu gehen. Der Schritt zum Urteilsspruch vom 22. Oktober war dann nur noch ein kleiner, doch die Folgen glichen einem Sturm, den die Nationalkonservativen nicht mehr unbeschadet überstehen werden. In nie gekannter Weise wurden Kaczyński und die von ihm geführte Regierungspartei angeprangert und dem öffentlichen Gespött preisgegeben. Die Umfragewerte gingen entsprechend zurück, vorbei ist es mit der Aussicht, dass die Nationalkonservativen irgendwann eine absolute Mehrheit der Stimmen im Lande erreichen könnten.

Kurz nach der gewonnenen Präsidentschaftswahl am 12. Juli 2020 hatte Kaczyński erklärt, dass es künftig für die Nationalkonservativen darauf ankäme, den Zuspruch unter den jüngeren Wählerschichten zurückzugewinnen, denn dort habe es kräftige Einbrüche gegeben. Der durch Polen fegende Frauenaufstand hat zumindest eines unter Beweis gestellt: Mit Kaczyński an der Spitze stehen die Nationalkonservativen bei der Erfüllung dieser Aufgabe auf einem verlorenen Posten. Das 2016 eingeführte gesetzliche Kindergeld und die vor allem für die jüngeren Bevölkerungsschichten verordnete und stramm nationalistisch ausgerichtete Geschichtspolitik spielen nicht mehr jene Rolle, die Kaczyński auf Dauer erwartet und die er seinen Parteigängern immer fest versprochen hatte. Es scheint, als ob nun das Ende der Kaczyński-Zeit für die Nationalkonservativen eingeläutet ist. Was das für das Land und vor allem für das Regierungslager bedeutet, werden erst die nächsten Wochen und Monate näher zeigen. Einstweilen scheuen sich die Regierenden aber, das irrwitzige Przyłębska-Urteil auch umzusetzen.