23. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2020

Von Generalsekretären und Päpsten

von Herbert Bertsch

Wem Gott ein Amt gibt, gibt er auch Verstand
– ist ein alter Scherz, den man wohl in
unseren Zeiten nicht gar für Ernst wird behaupten wollen.

Hegel

„Grundlinien der Philosophie des Rechts“, 1820

In Egon Krenz’ Abschlussbericht „Wir und die Russen“, mit ausführlichem Text seines Vier-Stundengesprächs mit Gorbatschow am 1. November 1989, gibt es einen bemerkenswerten Zusatz: „Die Atmosphäre war freundschaftlich und entspannt, man erzählte Anekdoten und trank trotz der Anti-Wodka-Beschlüsse auf dieses und jenes, wie ich es auch bei früheren Besuchen in der Sowjetunion erlebt hatte. Gorbatschow plauderte über seine Gespräche, die er kurz zuvor mit dem finnischen Staatspräsidenten geführt hatte, und daß er demnächst den Papst und US-Präsident George Bush treffen würde.“

Was Gorbatschow über seine Visite in Helsinki am 25. Oktober 1989, also noch ganz warm vom Neuigkeitswert, außerhalb des offiziellen Gesprächs „ausplauderte“, war allerdings nichts weniger als die Aufkündigung der so genannten „Breschnew-Doktrin“, international mit großem Echo so verstanden und von Gorbatschow auch den „eigenen Leuten“ gegenüber gewollt. Dieser existenzielle Aspekt für die DDR war im eigentlichen Gespräch demnach so gar nicht erörtert worden.

Im Nachhinein könnte man die betreffende Bemerkung von Gorbatschow vielleicht als Verkündigung interpretieren: „Heute geht es in den sozialistischen Ländern darum, daß jeder selbst nachdenkt.“ Dazu konnte Krenz vermutlich zustimmend nicken; in der DDR wurde von zahlreichen Bürgern, auch in Positionen des Staates und der führenden Partei ziemlich intensiv nachgedacht, freilich mit unterschiedlichem oder auch keinem Ergebnis.

Was den angekündigten Besuch beim Papst anlangt, war das wohl kaum Anlass zu besonderer Aufmerksamkeit für den führenden Genossen aus der DDR: Geht das mich etwas an, betrifft das uns? Gorbatschow seinerseits fühlte offenbar keine Veranlassung, den Gast vorab darüber zu belehren, wie sehr dies Ereignis die DDR betreffen würde; nicht nur politisch, noch stärker bewusstseinsmäßig.

Genau einen Monat später – am 1. Dezember 1989, Punkt 12:00 Uhr mittags – kam es zu dieser weltweit als historisch benannten Begegnung, um die Gorbatschow nachgesucht hatte, halb Staatsbesuch, halb gewährte Audienz beim „Stellvertreter“.

Das Event hatte eine längere Vorgeschichte. Im Zuge der hemdsärmeligen Entspannungsoffensive zehn Jahre nach Stalins Tod, hatte Chruschtschow seinen Schwiegersohn Alexei Adschubei nebst Tochter Rada am 7. März 1963 zu einer Privataudienz bei Papst Johannes XXIII. entsandt mit der Frage, ob es zu einer Begegnung auf höchster Ebene kommen könnte. Die damalige Antwort auf das Ansinnen: „Die Epochen der Bibel dauern sehr lange. Jetzt stehen wir am ersten Tag. Wir sind hier, schauen uns in die Augen und sehen, daß in ihnen das Licht ist.“

25 Jahre waren seither verflossen. Immerhin war die Angebotsnachfrage für die Kurie wohl zusätzlicher Anlass, mit dem ideologischen und politischen Gegner anders umzugehen: Nicht mehr nur über ihn, sondern auch mit ihm zu reden, zunächst auf verschlungenen Pfaden, aber auch mit deutlichen Signalen. So wurde der Heilige Stuhl schließlich auch Signatarstaat der Schlussakte von Helsinki, obgleich dieser langwierige Entspannungsprozess von den Ostblockstaaten initiiert und vom „Westen“ zunächst sehr zurückhaltend bewertet worden war. Man wollte das erfolgreiche Produkt der westeuropäischen Integration keinesfalls durch einen gesamteuropäischen Prozess, bei dem Europa eben nicht an der Elbe endete, infrage stellen.

Auch in und mit der DDR bedurfte es schwieriger Aufklärung, dass eine gute Wohnung im europäischen Haus der unsicheren Lage an fast allen Landesgrenzen vorzuziehen sei. Das erforderte allerdings Bereitschaft zu guter Nachbarschaft statt Abgrenzung. Gerade damit hatte allerdings auch die BRD ihre Probleme, musste sie doch bei der DDR de facto deren Eigenstaatlichkeit akzeptieren.

Eine neue Lage stellte sich für die DDR aber auch in manch anderer Richtung ein – etwa betreffend die Regulierung der Beziehungen zum Jüdischen Weltkongreß (WJC), vornehmlich zur „Conference on Jewish Material Claims against Germany“, die Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer des Nationalsozialismus und Holoucaust-Überlebender vertritt, und zum Vatikan. Beide Institutionen machten ihre Interessen gegenüber der DDR insbesondere über die Regierung der USA geltend, im Falle der Katholischen Weltkirche aber auch über kleinere Akteure wie Österreich. Diese entsprechenden Prozesse hielten mit unterschiedlicher Intensität fast bis zum Ende der DDR an, wobei sich zunehmend Lösungen herauskristallisierten. Auch ein Staatsbesuch Honeckers in den USA schien schließlich möglich, wären nicht die bekannten weltpolitischen Erosionen eingetreten …

Drei Wochen nach dem symbolträchtigen Fall der Mauer beglückwünschte Generalsekretär Gorbatschow, der letzte Repräsentant der kommunistischen Halbwelt, seinen Gastgeber Johannes Paul II. nicht nur mit ergebenem Dank für die Begegnung, sondern hauptsächlich mit dieser Würdigung: „Ohne Sie, Heiliger Vater, wäre die Berliner Mauer nie gefallen.“ Einige Jahre später, 1992 erläuterte Gorbatschow dies, verbunden mit dem Eingeständnis der persönlichen Wirkung des Papstes auf ihn: „Alles, was in den letzten Jahren in Osteuropa geschehen ist, wäre ohne diesen Papst nicht möglich gewesen. […] Dieser Papst hat mein Denken beeinflusst.“ Papst Franziskus lobte am 19. Mai 2020 folgerichtig: Johannes Paul II. sei ein „Geschenk Gottes an die Kirche“ gewesen. Auch der zeitweilige polnische Präsident General Jaruzelski bestätigte die eminent wichtige Rolle dieses Papstes bei der Erosion des Ostblocks: „Bei seinem Polenbesuch im Sommer 1979 verminte der Papst das Sowjetimperium, 1989 flog es dann in die Luft.“

Gorbatschow und der Papst erörterten dreieinhalb Stunden weniger die politische Lage, als vielmehr die weltbewegende, moralische Kraft der Religion, die sich als sieghaft erwiesen habe. Die dem Vatikan nahestehende Tagespost zitierte in einem Bericht darüber später den der italienischen christdemokratischen Politiker und Philosophen Rocco Buttiglione: „In Michael Gorbatschow habe der damalige Papst einen ‚Kommunisten mit Gewissen‘ gefunden. Zwar habe auch Gorbatschow den Kommunismus nicht abschaffen, sondern nur reformieren wollen. Gerade bei der Wende in Deutschland habe er jedoch eine entscheidende Rolle gespielt. ‚Honecker rief Gorbatschow ja an und bat ihn, ihm die Rote Armee zur Verfügung zu stellen, um den Protesten zu begegnen. Gorbatschow sagte aber Nein.‘ Dieses Nein […] habe Gorbatschow zu einem großen Menschen gemacht.“ Und dann wusste Buttiglione auch noch dieses: „Gorbatschow war für das Christentum empfänglich, schließlich war er von seiner Großmutter ja getauft worden.“ Nach Selbstgeständnis des Täuflings allerdings hat die Oma den Akt nicht selbst vollzogen, sondern habe ihn in aller Heimlichkeit vornehmen lassen.

Wenn man sich demgegenüber daran erinnert, dass noch Papst Pius XII. den Tod Stalins unchristlich befriedigt, aber machtbewusst so kommentiert haben soll: „Jetzt wird er sehen, wieviele Divisionen wir haben!“ Dies war seinerzeit eine Retourkutsche auf Stalins verbreitet kolportierte Frage: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“

Wo der Generalissimus solches jedoch geäußert haben soll, ist durchaus strittig. So bot etwa Berthold Seewald, Leitender Redakteur Geschichte der Welt, vor einigen Jahren Jalta als Schauplatz an. In einem Beitrag mit dem Titel „In Jalta machte sich Stalin über den Papst lustig“ zitierte Seewald Stalin folgendermaßen: „In Ordnung; aber Sie wissen ja, meine Herren, daß man Kriege nun einmal mit Soldaten, Kanonen und Panzern führt. Wie viele Divisionen hat der Papst? Wenn er uns das verrät, kann er unser Verbündeter werden.“ Das soll nach Seewald Stalins Replik auf eine Einlassung Churchills gewesen sein, „den Papst als Verbündeten zu gewinnen“.

Das wäre demnach im Zeitraum vom 4. bis 11. Februar 1945 geschehen. Da stand die sowjetische Armee 70 Kilometer vor Berlin und verhandelt wurde, wie mit dem geschlagenen Deutschland in Besatzungszonen umgegangen und wie die UNO gegründet werden sollte. Wer hätte bei dieser Konstellation noch vatikanische „Hilfsdivisionen“ gebraucht? Weder in den verschiedenen Protokollen von Jalta noch in den Erinnerungen und allen Nachlässen von Churchill gibt es folglich irgendeinen Beleg für dieses Stalin-Zitat.

Vermutlich stammt das Zitat – ob im hier widergegebenen oder einem inhaltlich ähnlichen Wortlaut – aus einer anderen Zeit und einem anderen historischen Kontext: Anfang 1935 ging es bei einem Besuch des damaligen französischen Außenministers Laval in Moskau um eine militär-technische Beurteilung der europäischen Kapazitäten gegen beargwöhnte Aggressionsvorbereitungen Hitler-Deutschlands und dabei möglicherweise auch um die Frage, ob man eine unterstützende Mitwirkung des Vatikans bei der Isolierung Deutschlands gegen eine Rücknahme oder Minderung der atheistischen Politik im Innern der Sowjetunion erreichen könne. Da wäre das Stalin-Zitat als eine sinnvolle und Interessen gestützte Antwort sachlich gerechtfertigt gewesen. Laval, eine schillernde Figur der europäischen Zeitgeschichte, hatte im Januar 1935 Mussolini und den Papst getroffen und am 13. Mai dann Stalin.

Zu diesem letzteren Treffen findet sich unter dem Datum vom 19. Juni 1935 folgender Eintrag in den Tagebüchern von Iwan Maiski, seinerzeit sowjetischer Botschafter in London: „Ich habe (eingestandenermaßen von dritter Seite) einige Details über Stalins Treffen mit Laval erfahren. […] Als im Verlauf ihres Gesprächs die Rede auf Macht und Einfluß der katholischen Kirche kam, fragte L. S., ob man sich nicht um eine Versöhnung zwischen der UdSSR und dem Papst bemühen könne, vielleicht durch Abschluß eines Paktes mit dem Vatikan. … S. lächelte und sagte: ‚Einen Pakt? Einen Pakt mit dem Papst? Nein, das wird nicht passieren! Wir schließen Pakte nur mit Leuten, die Armeen haben, und der römische Papst hat, soweit ich weiß, keine Armee.“

So ändern sich die Zeiten und mit ihnen selbst das Verhältnis von Generalsekretären und Päpsten.

Ein bemerkenswertes Beispiel für die „Beständigkeit des Wandels“.