23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Der Lynchmord an Emmett Till

von Frank-Rainer Schurich

Welcher Stern fällt,
ohne dass ihn jemand sieht?

(William Faulkner)

Vor 65 Jahren, am 31. August 1955, fand ein Angler am Pecan Point, an einer Uferstelle des Tallahatchie River im US-Bundesstaat Mississippi, die Leiche eines Jungen, der zunächst nicht identifiziert werden konnte. Ein Auge fehlte, die Nase war gebrochen, am Kopf befand sich ein Einschussloch, und der ganze Körper war zerschunden. So, als wenn der junge Afroamerikaner auf grausamste Weise zu Tode gequält wurde. Die Täter hatten versucht, den Leichnam mit einem 30 Kilogramm schweren Ventilator einer Baumwollmaschine, den sie mit Stacheldraht am Hals des Opfers befestigt hatten, im Fluss zu versenken.

Der obduzierende Gerichtsmediziner Chester Miller stellte aufgrund des in der Lunge gefundenen Wassers fest, dass der Junge nach dem Kopfschuss noch gelebt haben muss, als er in den Fluss versenkt wurde. Schnell war klar, dass Emmett Till aus Chicago das Opfer ist. Sein Onkel Moses Wright und dessen Sohn Simeon konnten ihn aber nur noch anhand eines Fingerringes identifizieren.

Was war geschehen? Im Juli 1955 besuchte der Prediger Moses Wright aus Money, Mississippi, seine Schwester Mamie (Elizabeth) Till in Chicago, Illinois. Sie hatten ein sehr herzliches Verhältnis. Er lud ihren Sohn Emmett zu einem Gegenbesuch ein, am besten gleich in den nächsten Schulferien. Der Onkel besaß in Money ein Stück Land, auf dem er mit seiner Familie Baumwolle anbaute.

Mamie hatte sich 1941 von ihrem Mann getrennt und zog Emmett allein groß. Sie war eine sehr fürsorgliche Mutter, und von dieser Idee des Onkels war sie gar nicht begeistert. In den Südstaaten herrschte verbrecherischer Rassismus, und sie befürchtete, dass ihr Sohn durch Weiße attackiert werden würde. Der Gegenbesuch kam trotzdem irgendwie zustande.

Am 24. August 1955 ging der 14-jährige Emmett Louis Till mit seinen Cousins in das Lebensmittelgeschäft von Roy Bryant und dessen Frau Carolyn, um für zwei Cent Kaugummi zu kaufen. Carolyn Bryant war allein im Verkaufsraum. Sie hatte selbst zwei Kinder und war eine ehemalige Schönheitskönigin der High School. Beim Verlassen des Geschäfts soll Emmett, der infolge einer Polioerkrankung leicht stotterte, aus Übermut gegenüber der Verkäuferin „Bye, Babe“ gesagt und einen bewundernden Pfiff ausgestoßen haben. So behauptete es jedenfalls Carolyn Bryant, die ihren Mann rief. Dieser lief sofort zum Auto, um eine Waffe zu holen. Die Jungs liefen in Panik davon. Emmett Till bat seine Cousins inständig, dem Onkel nicht von dem Vorfall zu erzählen.

Dann passierte erst einmal nichts, und es schien alles wieder in normalen Bahnen zu laufen. Am frühen Morgen des 28. August 1955 erschienen jedoch Roy Bryant und sein Halbbruder John William Milam schwerbewaffnet bei Moses Wright und verlangten die Herausgabe von Emmett Till. Die Männer erklärten ihm und seiner Frau Elisabeth, warum sie den Jungen haben wollten, und Moses Wright erklärte den beiden, dass sein Neffe nichts über Sitten und Gebräuche im Süden der USA wisse, und er entschuldigte sich in seinem Namen. Seine Frau bot den Männern sogar Geld zur Wiedergutmachung an.

Das alles nützte nichts, die Wrights wurden mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Im Haus fanden die Entführer Emmett, luden ihn auf ihren Chevrolet-Pickup und rasten davon. Als die Männer mit dem Jungen das Haus verließen, hörte Moses eine Frauenstimme: „Ja, das ist er.“

Moses Wright erstattete eine Anzeige, nachdem Emmett am Morgen des nächsten Tages nicht zurückgekehrt war, und zwar gegen Bryant und Milam wegen Entführung. Nach dem Auffinden der Leiche wollte der Sheriff von Money den toten Emmett schnell im Ort beerdigen, damit Gras über die Sache wächst. Doch Mamie Till, auch in der Trauer eine ganz starke Frau, setzte durch, dass der Leichnam ihres Sohnes nach Chicago überführt wurde. Rund 50.000 Menschen defilierten vor dem offenen Sarg an dem schändlich zugerichteten Gesicht vorbei.

Magazine veröffentlichten Fotos vom toten Emmett, der Fall löste auch über die Grenzen der USA Entsetzen und Empörung aus. Angeprangert wurde der mörderische Rassismus, besonders in den Südstaaten, so dass man gar nicht umhin kam, Bryant und Milam in Sumner, Mississippi, vor Gericht zu stellen.

Die zwölfköpfige Jury bestand nur aus weißen Männern. Diverse Zeugen verschwanden auf mysteriöse Weise, und diejenigen, die dennoch aussagten, wurden bedroht, unter ihnen auch Moses Wright. Ein Zeitungsreporter beschrieb die Stimmung im Gerichtssaal: „Im Zuschauerraum wurde geplaudert, gelacht, und auf den für Weiße reservierten Plätzen wurden wahre Picknicks veranstaltet. Während des ganzen Prozesses saßen die Angeklagten bei ihren Familien, und auf deren Schoß saßen die Kinder.“ Die Zeugin Carolyn Bryant verstieg sich zu abenteuerlichen Behauptungen. Nicht nur, dass er „Bye, Babe“ gesagt haben soll; der Jugendliche habe sie ergriffen und mehrfach verbal belästigt. Aber die Cousins sagten aus, dass das nicht stimmt. Draußen, vor der Ladentür, habe Emmett nur frohgemut vor sich hin gepfiffen.

Die Verteidiger schwadronierten dagegen verschwörungstheoretisch. Es wäre gar nicht Emmett Till gewesen, sondern schwarze Aktivisten hätten Emmett unter Mithilfe von Moses Wright den Ring abgenommen und der Leiche eines unbekannten jungen Afroamerikaners an den Finger gesteckt. Sie behaupteten, dass der angeblich Ermordete am Leben sei und irgendwo im Norden der USA lebe. „Eure Vorfahren drehen sich im Grab um, wenn ihr diese Männer nicht freilasst“, drohte der Verteidiger J. W. Kellum den Jury-Mitgliedern. Es wurde fünf Tage mehr oder weniger verhandelt, und die Beratung der Jury dauerte nur 67 Minuten mit dem Ergebnis, dass Bryant und Milam nicht schuldig seien.

Schon wenige Monate nach der Urteilsverkündung verkauften Roy Bryant und John William Milam dem Look Magazine für 4.000 Dollar die ganze Wahrheit. Sie schilderten akribisch das von ihnen verübte Verbrechen. Der Junge habe sich störrisch, nicht geständig und bar jeglicher Angst gezeigt, obwohl er die Frau des Lebensmittelhändlers belästigt hatte. Die beiden Mörder waren nach ihren Geständnissen gesellschaftlich geächtet und wurden von ihren Familien verlassen. Sie sollen völlig verarmt gestorben sein.

Aber wer jetzt denkt, dass sie nun erneut vor Gericht gestellt wurden, irrt sich gewaltig. Plötzlich und unerwartet kamen nun rechtsstaatliche Prinzipien ins Spiel und damit der alte Rechtsspruch „Ne bis in idem“, was heißt: Nicht zweimal im gleichen (Prozess), was auf die „Rede gegen Leptines“ des griechischen Redners Demosthenes zurückzuführen ist. Sie hatten also durch ihren Freispruch keine juristischen Konsequenzen zu befürchten. Auf die Idee, den Prozess höchstrichterlich neu aufzurollen und das Urteil wegen erheblicher rechtsstaatlicher Mängel aufzuheben, kamen die rassistischen Obersten Richter natürlich nicht.

Der Filmemacher Keith Beauchamp recherchierte fast fünf Jahre in Money und Umgebung, um den Fall 2005 in seinem Dokumentarfilm „The Untold Story of Emmett Louis Till“ aufrollen zu können. Er fand heraus, dass es noch mindestens acht (!) weitere Mordhelfer gab. Danach wurde das FBI aktiv, das die Exhumierung des Leichnams von Emmett Till zur gerichtsmedizinischen Untersuchung anordnete. Die Bundeskriminalisten vernahmen Augenzeugen, Verdächtige, Informanten und andere Zeitzeugen. Danach galt Carolyn Donham, geschiedene Bryant, die völlig zurückgezogen lebte, als Haupttäterin; sie konnte sich aber an Einzelheiten der damaligen Geschehnisse angeblich nicht mehr erinnern.

2007 interviewte der Schriftsteller Timothy Tyson die 72-jährige Carolyn Donham. Sie erklärte, dass Emmett sie weder ergriffen noch verbal belästigt habe.

Der Tod von Emmett Till war ein Signal für die Bürgerrechtsbewegung in den USA im Kampf gegen die rassistischen „Jim-Crow-Gesetze“, in die sich der damals noch nicht bekannte Baptistenprediger Martin Luther King einreihte. 1962 widmete Bob Dylan dem gelynchten schwarzen Jungen den Folksong „The Death of Emmett Till“. Und ein Raumschiff im Science-Fiction-Franchise „Star Trek“ wurde 2018 nach Emmett Till benannt. Seine Mutter Mamie Till-Mobley veröffentlichte 2003 gemeinsam mit dem Professor für Journalistik und amerikanische Studien Christopher Benson das Buch „The Death of Innocence“ über das Leben und Sterben ihres Sohnes.

Ein Weißer sagte vor einiger Zeit einem Reporter der New York Times: „Warum interessiert ihr euch alle so für Emmett Till? Im Tallahatchie liegen Hunderte von toten Niggern.“ Auch wegen solcher Hassreden ist Emmett Till heute so wichtig. Der Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger William Faulkner, der selbst aus Mississippi stammte und unter anderem bekannt wurde durch seine sozialkritischen Romane gegen Krieg und Rassenhass, schrieb, als er von dem Lynchmord erfuhr, aus Rom: „Wenn wir in unserer desolaten Kultur in Amerika den Punkt erreicht haben, an dem wir Kinder ermorden, gleichgültig aus welchem Grund oder welche Hautfarbe sie haben, dann verdienen wir es nicht, weiterzuleben, und vermutlich werden wir es auch nicht.“