23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

Gesegnete Atomraketen

von Erhard Crome

In Hamburg ist ein „Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften“ beheimatet, abgekürzt „zebis“. Es gehört zur „Katholischen Soldatenseelsorge (KS)“, die unter der Aufsicht des „Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr“ steht. Die jüngste Publikation vom 15. Juni 2020 trägt den Titel: „Die Kernfrage: Nukleare Abschreckung im Fokus von Friedensethik und Sicherheitspolitik“. Die Textsammlung ist als „Special“ deklariert und hat den Untertitel: „Atomwaffen, Dienst und Gewissen“.

Im Editorial verweist Veronika Bock, Direktorin des zebis, auf Papst Franziskus, der 2019 in Nagasaki die nukleare Abschreckung verurteilt hatte: Frieden und internationale Stabilität könnten nicht auf der Bedrohung einer totalen Auslöschung aufbauen. Pflichtschuldig verweist Bock auf das von Franziskus geltend gemachte Paradox, dass Waffen, „deren Anwendung ethisch nicht zu legitimieren“ sei, den Frieden sichern sollen. Das spiele „in der friedensethischen Diskussion der katholischen Kirche schon lange eine zentrale Rolle“. Sie nennt auch die Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIII. aus dem Jahre 1963. „Dass der Rüstungswettlauf aufhöre und wirksame Vereinbarungen zur Abrüstung getroffen würden, war für ihn gleichermaßen ein Gebot der Gerechtigkeit, der Vernunft und der Menschenwürde.“ Damit ist ein ethischer Maßstab gesetzt.

Heinz-Günther Stobbe, Professor i.R. und Moderator der AG „Gerechter Friede“ der Deutschen Kommission Justitia et Pax, argumentiert denn auch im Sinne der 2019 beschlossenen Position einer Ächtung der Atomwaffen als Ausgangspunkt des angestrebten Abrüstungsprozesses. Der Einsatz der katholischen Kirche „für ein vollständiges Verbot und eine Abschaffung von Atomwaffen“ stelle eine stringente Weiterführung ihrer Soziallehre dar, die jenseits der Religionszugehörigkeit an die sittliche Vernunft des Menschen appelliert und eine breite Unterstützung für eine schrittweise Abkehr von der nuklearen Abschreckung gewinnen will. In diesem Sinne betont Stobbe, die internationale Ächtung der Nuklearwaffen könne nicht am Ende eines Prozesses stehen, der in ihrer faktischen Beseitigung mündet, sondern müsse dessen Anfang markieren.

Der Jesuitenpriester und Ethik-Professor Drew Christiansen von der Georgetown-Universität (USA) dagegen verweist auf den Hirtenbrief The Challenge of Peace (Die Herausforderung des Friedens) der katholischen Bischöfe der USA aus dem Jahre 1983, in dem betont wurde, das Königreich Gottes sei noch nicht verwirklicht. Das erlaube „eine komplexe moralische Haltung“, die sowohl die Lehre von der Gewaltlosigkeit als auch die des gerechten Kriegs mit einschließe. Diese differenzierte Haltung zum gerechten Krieg lasse genug Zweideutigkeit zu, um die nukleare Abschreckung „glaubwürdig“ erscheinen zu lassen. Christiansen verweist darauf, dass der Heilige Stuhl 2017 an der UNO-Konferenz zur Ausarbeitung des Vertrages über das Verbot von Kernwaffen (TPNW) teilnahm und der Vatikan als einer der ersten Staaten diesen Vertrag unterzeichnete und ratifizierte. Am Ende jedoch schränkt Christiansen ein: die Theologie stelle lediglich ein Element unter mehreren zur Herausbildung eines moralischen Urteils dar.

Eine Sicht der evangelischen Kirche hat Ines-Jacqueline Werkner von der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg beigesteuert. Sie erinnert an das Konzept der gemeinsamen Sicherheit, das sie als „alternativlos“ ansieht, und fordert Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie neue vertrauensbildende Maßnahmen. Dieser Zugang sei „nicht neu, aber in den letzten Jahrzehnten mit dem Fokus auf Institutionen des liberalen Friedens wie EU und NATO – auch in innerkirchlichen Debatten – in gravierender Weise vernachlässigt worden“. Mit anderen Worten: das westliche Konzept eines von ihm bestimmten „liberalen Friedens“ statt friedlicher Koexistenz schafft Unfrieden.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hätte auch die NATO aufgelöst werden müssen, betont Tom Sauer, Professor für internationale Politik an der Universität Antwerpen (Belgien). Deren Fortbestehen stelle „eine Fehlentwicklung in der Geschichte der internationalen Politik dar“. „Schlimmer noch, die NATO expandierte sogar in Richtung Osten, was Russland strikt ablehnte – ein solcher Schritt wäre nur unter der Bedingung akzeptabel gewesen, dass auch Russland integriert worden wäre, was jedoch auf den Widerspruch der Vereinigten Staaten stieß“. Sauer erinnert daran, dass „sowohl der westdeutsche als auch der amerikanische Außenminister […] Gorbatschow und Schewardnadse […] im Februar 1990 sogar mündlich zugesagt [hatten], die NATO niemals nach Osten zu erweitern“. Westliche Politiker geben mit Vorliebe Putin die Schuld an den neuerlichen Spannungen. Nötig jedoch seien dringend neue Verhandlungen. „Aber wenn wir die nukleare Rüstungskontrolle wiederbeleben wollen, sollte der Westen den eigenen Kurs überprüfen und einige ein- oder gegenseitige positive Schritte in Richtung Russland unternehmen“.

Oberst a. D. Wolfgang Richter, Mitglied der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, fordert zwar eine „Erneuerung der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle“ und eine Verlängerung des New START-Vertrages sowie Verhandlungen über einen Folgevertrag, um nach dem Ende des INF-Vertrages eine Neustationierung landgestützter Mittelstreckenraketen in Europa zu verhindern, seine Pointe jedoch ist: „ein deutscher Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe“ würde „zur Spaltung Europas und weiteren Destabilisierung der europäischen Sicherheitsordnung führen“. Damit rangiert die Atomwaffe vor Gewissen und Moraldiskussion.

Michael Rühle, eingefleischter Atlantiker, leitet das Referat „Hybride Herausforderungen und Energiesicherheit“ im NATO-Stab. Er erklärt, alle Versuche, die nuklearwaffenfreie Welt zu erreichen, seien bislang gescheitert, und das werde auch auf absehbare Zeit so bleiben: „Denn Nuklearwaffen haben ihre sicherheitspolitische Bedeutung noch lange nicht eingebüßt.“ Auch sei davon auszugehen, „dass Berlin an der Rolle Deutschlands in der sogenannten nuklearen Teilhabe der NATO nicht rütteln wird.“ Die NATO werde „nach Auffassung aller Verbündeten eine ‘nukleare Allianz’ bleiben, solange Kernwaffen existieren.“ Meint: bis zum Sankt Nimmerleins-Tag. Ganz in diesem Sinne assistiert Konstantin Bogdanov, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalen Primakov-Forschungsinstitut in Moskau, von der russischen Führungsschicht sei „in Zukunft keine positive Einstellung hinsichtlich einer umfassenden nuklearen Abrüstung zu erwarten“.

China konzediert Sven Bernhard Gareis, beim NATO-Stab in Brüssel für ein Eurasien-Programm zuständig, zwar, eine strategische Parität oder gar Überlegenheit gegenüber den USA nicht anzustreben, jedoch eine glaubhafte Zweitschlagsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Die Großmächterivalität im Indopazifischen Raum habe jedoch ein bemerkenswertes Niveau erreicht; China und die USA „stehen sich mit wachsendem Argwohn gegenüber“. Dies trage trotz Chinas „defensiver Nuklearstrategie der Minimalabschreckung“ jedoch ein Restrisiko einer massiven Eskalation in sich.

Burkhard Bleul, praktizierender katholischer Militärseelsorger, will aus dem „scheinbaren ethischen Dilemma zwischen dem weiterhin vorherrschenden Glauben an die Abschreckung (aus Furcht vor dem Anderen) und dem fehlenden Vertrauen in alternative (politische) Lösungen“ herauskommen. Und wie? „Nur durch Beharrlichkeit, Dranbleiben, Weiterdenken und vorurteilsfreies und innovatives Kommunizieren auf allen Ebenen.“ Dabei will er nicht etwa auf Gott vertrauen, sondern darauf, „dass selbstredend auch Politiker und Militärs (ethisch) denkende und für Alternativen offene Menschen sind.“ Das wichtigste Wort hier ist „scheinbar“. Alle skrupulösen moraltheologischen Überlegungen vorn in der Publikation sind jetzt aufgelöst in die Aufforderung zum Dienst an der Atomwaffe. Generalleutnant a. D. Markus Bentler, in der Verwendung zuletzt Deutscher Militärischer Vertreter im Militärausschuss der NATO und der EU, seit 2017 Leiter des „Studienkreises katholischer Offiziere“, gibt sich folgerichtig alternativlos und plädiert für eine „praktische Politik des Realismus“, die „dem sicher gut gemeinten Idealismus überlegen“ sei. Deutschland solle sich „weiter zur nuklearen Teilhabe der NATO bekennen“, deren Schutzschirm sei „für uns ein wesentliches Element europäischer Sicherheit“. Dafür gäbe es keinen Ersatz. Dass er hier das Gegenteil von dem sagt, was der Papst fordert, kann er ja dann seinem Beichtvater erzählen und ein paar Vaterunser zusätzlich beten.