Noch ist die Covid-19-Pandemie nicht vorüber und das ganze Ausmaß der Wirtschaftskrise nicht bekannt, da kamen bereits die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammen, um über Finanzhilfen für den „Wiederaufbau“ zu beraten. Nach heftigem Streit wurde beschlossen, insgesamt 750 Milliarden Euro als „Sonderfonds“ zur Überwindung der durch die Corona-Pandemie entstandenen Schäden einzusetzen, davon 390 Milliarden als Zuschüsse und 260 Milliarden Euro als Kredite. Darüber hinaus wurden die Eckwerte für den EU-Haushalt 2021 bis 2027 beschlossen. Der Umfang beträgt 1.074 Milliarden Euro. Damit ging es bei den Verhandlungen in Brüssel insgesamt um ein Finanzpaket von 1.824 Milliarden Euro. Das ist die größte finanzielle Herausforderung, vor der die Europäische Union bisher stand.
Der Löwenanteil des „Sonderfonds“ soll den wirtschaftlich schwachen und durch die Pandemie besonders betroffenen Staaten zugutekommen. Vor allem in Form von nicht zurückzuzahlenden Zuschüssen. Der kleinere Teil dient der Finanzierung von Zukunftsprojekten. 70 Prozent der Gesamtsumme sollen in den Jahren 2021 und 2022 ausgegeben werden, 30 Prozent sind für 2023 reserviert. Die Verteilung auf die einzelnen Staaten richtet sich vor allem danach, wie stark die Wirtschaft in den Jahren 2020 und 2021 einbricht. 2022 sollen die für 2023 vorgesehenen Zahlungen noch einmal überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Wahrscheinlich nach oben. Die betroffenen Staaten sollen selbst Pläne für die Verwendung der Zuschüsse und Kredite vorlegen, die die EU-Kommission dann prüfen wird. Die Kriterien dafür sollen sich nach den länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission richten.
Soweit der Stand nach Abschluss der Verhandlungen. Soweit der ausgehandelte Kompromiss. Inzwischen hat das EU-Parlament bereits eine Nachbesserung verlangt. Ebenso einige Länderparlamente, diverse Expertengremien, Umweltverbände und andere mehr. Dabei wird insbesondere darauf gepocht, dass die Freigabe der Mittel nur dann erfolgen soll, wenn garantiert ist, dass das Geld auch für Klimaschutz- und Digitalisierungs-Projekte eingesetzt wird. Wie hoch dieser Anteil sein sollte, ist jedoch umstritten. Bei den Vorstellungen darüber zeichnen sich gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten und den Parteien ab, die jedoch die Kommissionsentscheidung, damit sie umgesetzt werden kann, mit qualifizierter Mehrheit absegnen müssen. Dadurch soll gesichert werden, dass die Zuschüsse nicht einfach in die Haushalte der EU-Staaten einfließen und damit irgendwelche Finanzierungslöcher gestopft werden. Falls eine oder mehrere Regierungen Zweifel an der sachgerechten Verwendung dieser Mittel haben, können sie eine Debatte darüber auf dem nächsten EU-Gipfel beantragen. – So geht heutzutage Demokratie!
Schaut man sich die einzelnen Regelungen und das Procedere dazu genauer an, so könnte man verzweifeln:
Erstens, weil hieraus absolut nicht hervorgeht, dass die Mehrheit der Regierungen und Staaten die Krise als Chance nutzen will, um wirtschaftlich, sozial und kulturell umzusteuern. Dagegen ist überall die Absicht erkennbar, baldmöglichst zum früheren Leben zurückzukehren und so weiter zu machen wie bisher. Dies zeigt sich auch in den Debatten, die während der Krise in der Öffentlichkeit geführt werden und in denen sich alles darum zu drehen scheint, wann und wie schnell die alte Normalität wieder hergestellt werden kann, nicht aber, wie man zu einer neuen Normalität kommen könnte. Das gilt für das Reisen, für den Verkehr und für den Tourismus ebenso wie für die Produktion, die Arbeitswelt und den Fußball.
Zweitens wird deutlich, dass sich im Ergebnis der Covid-19-Pandemie und der Wirtschaftskrise, trotz der beschlossenen Hilfsprogramme für die besonders betroffenen Staaten, die Ungleichheit zwischen den und innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften und Regionen vergrößern wird. Dass dem so ist, hat mehrere Ursachen. Ein Grund aber ist darin zu sehen, dass die Staaten, die über eine starke Wirtschaft verfügen, besser mit der Pandemie zurechtkommen und daher weniger Schaden erleiden als andere. Diejenigen Staaten, die wirtschaftlich schwach sind, verlieren dadurch weiter an Boden und werden am Ende noch schlechter dastehen als zuvor.
Das ist jedoch kein Grund, die Maßnahmen und Hilfsprogramme abzulehnen, denn ohne sie wäre das Ergebnis noch katastrophaler. Die einzige Partei in Deutschland, die das Finanzpaket komplett ablehnt, ist die AfD, deren Gründungsimpuls bekanntlich die Ablehnung einer europäischen Zusammenarbeit und der gemeinsamen Währung überhaupt war. Fraktionschefin Alice Weidel sieht mit den beschlossenen Hilfen ein „gigantisches Umverteilungskarussell“ auf die EU zukommen, das dazu führen wird, dass Steuergelder „im ganz großen Stil“ verschenkt und die Schulden in der EU gigantisch anwachsen werden. Beides trifft zu, aber wären die Abschottung Deutschlands und ein nationaler Alleingang ein besserer Weg? Wohl nicht.
Trotzdem stimmen die Finanzierungsmodalitäten des Hilfspakets bedenklich: Die EU nimmt dafür erstmals in ihrer Geschichte eigene Schulden auf. Die Rückzahlung dieser Schulden soll vor 2027 beginnen, aber bis 2058 (!) laufen. Damit die Rückzahlung einer so gewaltigen Summe die normale Arbeit der EU nicht lahmlegt, sollen für die Union künftig eigene Einnahmequellen erschlossen werden. Eine Idee dafür ist die Einführung einer „Plastiksteuer“ ab 2021 auf nicht recyclebares Plastik. Zudem gibt es Pläne für eine „Digitalsteuer“ und eine sogenannte CO2-Grenzsteuer. Die sollen spätestens 2023 eingeführt werden. Mit der Grenzsteuer werden Importe aus Staaten belastet, die keine so strengen Klimaschutzvorgaben wie die EU haben. Zudem soll der Flug- und Schiffsverkehr in den Emissionshandel einbezogen sowie an den Börsen eine „Finanztransaktionssteuer“ eingeführt werden. Was davon letztlich realisiert werden wird und wie viel Einnahmen damit generiert werden, sind jedoch offene Fragen. Mit Absichtserklärungen lassen sich aber keine Schulden finanzieren. Soll das ganze Paket keine Luftnummer werden, so muss die EU sehr schnell handeln und die nächsten Schritte auf dem Wege zu einer „Fiskal- und Wirtschaftsunion“ gehen.
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