23. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2020

Das war der Gipfel

von Erhard Crome

Eigentlich sollte der strategische EU-Gipfel, der die Weichen nach dem Corona-Einbruch und für den „Mehrjährigen Finanzrahmen“ der Europäischen Union von 2021 bis 2027 stellen sollte, nur zwei Tage dauern. Am Ende wurde nach mehreren Verlängerungen über fünf Tage, vom 17. bis zum 21. Juli 2020, verhandelt. Einige Journalisten rechneten damit, dass es der längste Gipfel in der Geschichte der Europäischen Union werden würde – der Gipfel in Nizza war über fünf Tage gegangen (7.–11. Dezember 2000). Schließlich fehlten ein paar Minuten, Brüssel 2020 blieb der „nur“ zweitlängste Gipfel.

Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Einbrüche, die Corona in den EU-Staaten zur Folge hatte, war vorher erneut die Idee von „Euro-Bonds“ aufgekommen, die jetzt „Corona-Bonds“ genannt wurden. Die Frontstellungen innerhalb der Euro-Zone waren zunächst wie in der Finanzkrise nach 2008: Die Südländer, vor allem Italien und Spanien, drängten – unterstützt von Frankreich – auf die Schaffung dieses Instruments; Deutschland, die Niederlande und Österreich sowie die skandinavischen Staaten lehnten es ab. Allerdings räumte der deutsche Finanzminister Olaf Scholz ein, dass damals das Hauptargument der Ablehner war, man würde den „Reformeifer“ der Südländer bremsen, die seien an ihrer finanzpolitischen Misere also selbst schuld gewesen, während für die Corona-Pandemie niemand könne. Gleichwohl wären „Corona-Bonds“ eine „Vergemeinschaftung der Schulden“, und das sei in den EU-Verträgen nicht vorgesehen, man müsse andere, kreditfinanzierte Formen der finanziellen Abfederung der wirtschaftlichen Corona-Folgen finden.

Am Ende einigten sich die Führungsspitzen der EU auf ein umfassendes Paket von 1.824 Milliarden Euro, das den mehrjährigen Finanzrahmen in Höhe von 1.074 Milliarden Euro und Mittel für außerordentliche Aufbaumaßnahmen im Rahmen des Instruments „Next Generation EU“ verknüpft. Hier wurde die Kommission ermächtigt, bis zu 750 Milliarden Euro an den Märkten aufzunehmen, von denen 390 Milliarden als unmittelbare Hilfen an die EU-Staaten und 360 Milliarden als rückzahlbare Darlehen ausgereicht werden sollen.

Die Wahrnehmung der Ergebnisse des Gipfels war naturgemäß widersprüchlich. Der eher rechte Telegraaf aus den Niederlanden meinte, von festen Garantien könne nicht die Rede sein; wenn von „vereinbarten Reformen“ abgewichen werde, könne die Sache höchstens dem Europäischen Rat vorgelegt, nicht aber unterbunden werden. Das sei „als Drohinstrument nicht viel“. Avgi, linke Tageszeitung aus Griechenland, betonte dagegen, 12,5 der 32 Milliarden, die Griechenland aufnehmen kann, seien Kredite, die seine Schulden erhöhen werden. Am Ende müsse „das Land einen ,Reformplan‘ vorlegen“, der „aus sozialer Sicht katastrophal“ sein werde: „Im Zentrum stehen die Steuerreform zugunsten der Reichen, die vollständige Flexibilisierung der Arbeit und der Übergang zu einem [radikal marktorientierten] Sozialversicherungssystem à la Pinochet.“ Solche „,Reformen‘ im Austausch gegen Geld“ erinnerten an die Sparmemoranden der Finanzkrise.

Die Wiener Zeitung dagegen sah die Auffassung, mit dem Austritt Großbritanniens habe „der störende Nein-Sager“ die Union verlassen, als Irrtum an. In Gestalt der „Sparsamen Fünf“ sei dieser Geist bei Budget-, Umverteilungs- und Wettbewerbsfragen weiter präsent. Polen, Balten und Tschechen seien eine andere Widerspruchsgruppe, „wenn es um den Aufbau einer von den USA unabhängigen Sicherheitsarchitektur der EU geht“. Der Druck zur Einstimmigkeit würde dagegen „ein anderes Führungsverhalten von Deutschland und Frankreich erfordern. Statt sich vorab auf eine gemeinsame Linie zu verständigen, müssten die beiden gleich auf einen breiteren Konsens in umstrittenen Fragen hinarbeiten“.

Das ist gerade die Frage. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich schon vor dem Gipfel von der grundsätzlichen Ablehnung der Euro-Bonds verabschiedet und zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron den Vorschlag dieses 750-Miliarden-Euro-Topfes gemacht. Die Medien hatten darauf verwiesen, dass der Gipfel in die deutsche EU-Präsidentschaft 2020 falle und Merkel vor der Herausforderung stehe, die EU auf die 2020er Jahre vorzubereiten. Ohne die „Hausnummern“, die Merkel und Macron in die Welt gesetzt hatten, wäre eine Diskussion um mögliche Unterstützungsgelder für die Corona-gebeutelten Staaten versandet. Bei dem Gesamtumfang ist es geblieben, nur das Sortiment zwischen unmittelbaren Hilfen und Krediten wurde verschoben.

Tatsächlich hat es die Gruppe „der Sparsamen“ (die Norbert Röttgen von der CDU, der sonst nicht durch politische Phantasie auffällt, als „Gruppe der Geizigen“ bezeichnet hat) geschafft, Bewegung in die Verhandlungen zu bringen. Sebastian Kurz, der österreichische Kanzler, sagte dazu später, dass die kleineren Staaten, die nicht nur deutsch-französischen Entscheidungen zustimmen wollten, natürlich neue Allianzen bilden mussten. Interessant ist die Tatsache, dass unter den Geizigen nur Kurz und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte Konservative sind, während die Regierungschefs Dänemarks, Schwedens und Finnlands hoffnungsfrohe Sozialdemokraten sind, die Dänemarks und Finnlands zudem junge Frauen.

Den deutschen Medien gemäß waren die „Geizigen“ sowie die Regierungschefs von Ungarn und Polen, die eine rechtspolitische Konditionierung der Hilfszahlungen möglichst gering halten wollten, „Nationalisten“. Aber hat Merkel wirklich altruistisch und nicht-nationalistisch gehandelt? Tatsächlich reproduzierten sich mit der Corona-Krise die Ungleichgewichte innerhalb der EU. Deutschland bleibt das wirtschaftliche Kraftzentrum. Der deutsche Außenhandelsumsatz erreichte 2019 ein Volumen von über 2,4 Billionen Euro; die Exporte lagen bei 1.327,6 Milliarden der Exportüberschuss bei 223,6 Milliarden Euro, der Leistungsbilanzüberschuss bei 266,2 Milliarden (alle Zahlen nach Destatis). Der Wert der deutschen Exporte in die anderen EU-Staaten lag 2019 bei 777,3 Milliarden Euro, der Überschuss betrug 146,0 Milliarden. In die Länder der Euro-Zone gingen Exporte im Wert von 491,8 Milliarden Euro, bei einem Überschuss von 82,7 Milliarden. Das heißt, 2019 stammten 65,3 Prozent der deutschen Exportüberschüsse aus der EU und 37,0 Prozent aus der Eurozone.

Ein gewachsener Teil des deutschen Außenhandelsüberschusses resultiert aus dem Austausch mit der weiten Welt. Damit waren EU und Euro stärker als noch neun Jahre zuvor nicht mehr erstrangige Quelle deutscher Überschüsse als vielmehr Voraussetzung seiner globalen Position. Wichtigster Außenhandelspartner war 2019 erneut die Volksrepublik China mit einem Umsatz von etwa 206 Milliarden Euro, davon deutsche Exporte in Höhe von 96 Milliarden und Importe von 110 Milliarden Euro. Gegenüber China hat Deutschland das höchste Außenhandelsdefizit zu verzeichnen. Die meisten deutschen Exporte gingen in die USA, insgesamt im Wert von 118,7 Milliarden Euro. Damit ist Deutschlands Position als geoökonomische Macht mit globalen Interessen von einem weiteren Einbruch der US-Ökonomie im Corona-Gefolge sowie einer Zuspitzung der handelspolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China in höchstem Maße betroffen.

Jetzt dient das 750-Milliarden-Euro-Programm der EU dazu, die Union parallel zu China und schneller als die USA aus den Untiefen der Corona-Krise herauszuholen. Und die anderen EU-Staaten gegenüber Deutschland solvent zu halten. Im Zweifelsfall ist die EU eben doch das Hinterland der deutschen Position in der Welt. Zugleich erschwert die gemeinsame Kreditaufnahme natürlich weitere „Exits“ aus der EU, sei es der Frankreichs oder auch Italiens.