23. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2020

Angst vor Inflation

von Ulrich Busch

Ängste entstehen durch unklare Bedrohungen, ebenso aber auch durch Unwissen, Halbwissen, Fake News und dergleichen mehr. Nicht zuletzt gründen sie auf Fehlannahmen, Vorurteilen und kollektiver Hysterie. Mit einer solchen haben wir es gegenwärtig zu tun, wenn Menschen davon ausgehen, dass nach der Corona-Krise eine große Inflation drohe und eine Welle von Preissteigerungen über uns hereinbreche, Vermögensbestände entwertet werden und wir in ein Währungschaos stürzen könnten.

Diese Annahme stützt sich vorgeblich auf Erfahrungen aus früheren Krisen sowie auf die Überzeugung, dass eine expansive Ausdehnung der Geldmenge, wie sie gegenwärtig erfolgt, zwangsläufig zu einer Geldentwertung führen muss. – Aber beides ist falsch.

Blicken wir zurück auf die letzte große Krise, die Finanzkrise 2008, so stellen wir fest, dass auch damals die Geldmenge kräftig ausgeweitet worden ist, die Bilanzsumme der Europäischen Zentralbank enorm anstieg, die Zinsen bis auf null Prozent abgesenkt worden sind und die öffentlichen Schulden ungeahnte Höhen erreicht haben. Dadurch konnten die Konjunktur belebt und ein Abgleiten der Wirtschaft in eine Depression vermieden werden. Es gab jedoch auch Nebenwirkungen. Und diese sind bis heute als Blasenbildungen auf den Kapitalmärkten und im Immobiliensektor zu spüren. Einen generellen Anstieg des allgemeinen Preisniveaus gab es indes nicht, weder sofort noch später. Eher war das Gegenteil zu beobachten: eine Tendenz zur Deflation. Die üblicherweise als Inflationsindikator angesehene jährliche Veränderungsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindexes rutschte 2009 in Deutschland vorübergehend sogar ins Negative und erreichte erst Jahre später wieder den angestrebten Wert von knapp zwei Prozent.

Eine ähnliche Entwicklung ist momentan zu beobachten: Betrug die Veränderungsrate des oben genannten Indexes 2018 noch 1,9 Prozent und 2019 gerade mal 1,4 Prozent, so rutschte sie im April 2020 auf 0,9 Prozent ab und im Mai sogar auf 0,5 Prozent. Für die nächsten Monate ist ein weiterer Rückgang wahrscheinlich, mit Sicherheit aber kein kräftiger Anstieg. Dies folgt allein schon aus dem kleinen Einmaleins der Ökonomie, wonach die Inflation ein Phänomen des konjunkturellen Aufschwungs ist, nicht aber des Abschwungs oder der Krise. Da wir derzeit am Beginn einer Rezession stehen, droht uns folglich, zumindest mittelfristig, keine Inflation. Und schon gar keine Hyperinflation, wie sie einige Apokalyptiker immer wieder prophezeien.

Das zweite Argument, wonach eine Expansion der Geldmenge zwangsläufig direkt zu einem Preisniveauanstieg führe, beruht auf einem quantitätstheoretischen Fehlschluss. Richtig ist, dass, wenn es zu einem Anstieg des Preisniveaus kommen soll, dafür genügend Geld im Umlauf sein muss. Die Expansion der Geldmenge aber bildet nur die hinreichende Voraussetzung für eine Inflation. Damit eine solche tatsächlich eintritt, müssen auch die notwendigen Voraussetzungen dafür erfüllt sein. Diese aber bestehen in einem Anstieg der zahlungsfähigen Nachfrage, in einer über dem Produktivitätswachstum liegenden Zunahme der Löhne, in einem positiven Konsumklima, in einer steigenden Exportnachfrage und so weiter. Es ist leicht einzusehen, dass gerade diese Effekte gegenwärtig nicht gegeben sind und auch so schnell nicht wieder eintreten werden.

Die Corona-Krise hat vielmehr durch den teilweisen Stillstand der Produktion einen „Angebotsschock“ ausgelöst, zum Beispiel in der Landwirtschaft, im Tourismus und bei der Kraftfahrzeugproduktion. Dies treibt bestimmte Preise nach oben. Zugleich kam es aber auch zu einem „Nachfrageschock“, womit preisdämpfende Effekte verbunden waren. Und diese fielen deutlich größer aus als die preistreibenden Effekte auf der Angebotsseite. So ist das Kurzarbeitergeld geringer als die Löhne, es wächst die Arbeitslosigkeit, Selbständige verzeichnen Einkommenseinbußen, Umsätze sinken und Gewinne bleiben aus. Die Hälfte der Deutschen verzichtet 2020 auf eine Urlaubsreise. Größere Anschaffungen werden verschoben.

All das führt dazu, dass die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage zurückgeht. Im Ergebnis werden die deutsche und die europäische Wirtschaft 2020/21 eine Rezession verzeichnen. Die USA und andere Staaten ebenfalls. Ob diese bis 2022 wieder überwunden sein wird oder ob uns eine längere Depression bevorsteht – wie 1929 – lässt sich heute noch nicht abschätzen. Die Signale, die uns aus Amerika und Asien erreichen, sind hier alles andere als ermutigend. Aber die Zukunft ist (immer) ungewiss. Was sich jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen lässt ist, dass es in nächster Zeit zu keiner größeren Inflation kommen wird: „Das Risiko, dass die Pandemie in der Weltwirtschaft eine Deflation auslöst, ist insgesamt größer“, meint Peter Bofinger, bis 2019 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

„Inflations-Phobikern“, die es in der deutschen Bevölkerung bekanntlich massenhaft gibt, sei daher geraten, ihr Geld lieber jetzt auszugeben als es für später zu sparen. Sie könnten dadurch ein wenig mit dazu beitragen, die drohende Depression zu vermeiden und zu wirtschaftlicher Normalität zurückzukehren. Auch müsste dann nicht der Staat mit seiner Verschuldung und einer Monetarisierung der hohen Staatsschulden in die Bresche springen.

Andererseits zeichnet sich mit jedem Tag, den uns die Pandemie an Quarantäne und passivem Abwarten beschert, klarer ab, dass es eine Rückkehr zur alten Normalität nicht geben wird. Hoffentlich nicht! Der ohnehin längst fällige Wechsel in der Produktions- und Lebensweise könnte durch die Pandemie befördert werden. Auch wenn es die Politik nicht wahrhaben will und ein Teil der Politiker unbelehrbar darauf hinarbeitet, dass bald alles wieder so wird, wie vor der Krise, begreifen immer mehr Menschen, dass die Krise uns die einmalige Chance eröffnet, überfällige Reformen endlich anzugehen und überall, vor allem aber im Gesundheitswesen, im Verkehrswesen, im Außenhandel und in der Industrieproduktion, einen grundlegenden Wechsel einzuleiten. In Verbindung mit einem ökologischen Umbau der Wirtschaft wäre dann bald auch wieder ein wirtschaftlicher Aufschwung möglich.

Man muss es nur wollen!