Ein solches Spektakel hat das politische Polen lange nicht erlebt! Am Abend des 6. Mai gaben zwei Sejm-Abgeordnete der staunenden Öffentlichkeit kund, dass die für den 10. Mai festgesetzten Präsidentschaftswahlen nicht stattfinden würden, dass auch zu einem anderen Termin im laufenden Monat Mai keine Wahlen mehr stattfinden könnten. Jarosław Kaczyński und Jarosław Gowin haben weder Regierungs- noch staatliche Funktion, beide sind lediglich Parteivorsitzende – der eine führt eine größere und mächtige, der andere eine kleinere und eher unscheinbare Gruppierung. Beide sahen sich angesichts der zugespitzten Situation nun ermächtigt, kurzerhand über Dinge zu entscheiden, die für das gesellschaftliche Leben der Menschen im Land von entscheidender Bedeutung sein werden.
Am selben Abend, nur wenige Zeit zuvor, hatte sich Amtsinhaber Andrzej Duda in einer vom Regierungsfernsehen übertragenen Live-Debatte mit den Herausforderern argumentativ auseinanderzusetzen, meinte etwa pflichtgemäß, dass die erste Auslandsreise nach der Vereidigung selbstverständlich nach Rom führen werde. Nach der Debatte gab er dem Regierungsfernsehen noch ein kurzes Interview, in dem er hervorhob, ein erfahrener Wahlkämpfer zu sein und das Siegen nicht verlernt zu haben. Duda ging immer noch fest davon aus, dass die Wahlen spätestens am 23. Mai stattfinden würden. Die noch immer durchgeführten Umfragen weckten zudem wieder die Hoffnung, die Sache bereits nach nur einem Wahlgang über die Runden zu bringen.
Dass Staatspräsident Duda von dem schrägen Vorhaben der beiden nationalkonservativen Abgeordneten zum Zeitpunkt der Fernsehdebatte nichts gewusst hatte, bewertete Aleksander Kwaśniewski, einer seiner Amtsvorgänger, anderntags entsprechend: „Die Tatsache, dass der Staatspräsident in der Wahldebatte auftritt, obwohl nur knapp eine Stunde später die Entscheidung fällt, die Wahlen nicht am 10. Mai durchzuführen, zeugt davon, welche Marionette in dem Spiel er leider ist.“ Zwar wird Duda der Kandidat der regierenden Nationalkonservativen bleiben, aber nun ist öffentlich vorgeführt, dass er nichts anderes als ein Funktionsträger in dem von Kaczyński gesponnenen Netz ist. Ein Sportreporter würde jetzt einwerfen, es sei eine Steilvorlage für die Opposition.
Die hatte bereits nach Ausbruch der Corona-Krise, die das öffentliche Leben Polens für Wochen in eine Art Dornröschenschlaf versetzte, gefordert, den Wahltermin zu verschieben. Kaczyński hingegen forderte von seinem Lager strenge Linie, nur einer fiel aus der Reihe – eben besagter Gowin (siehe Blättchen 8/2020). Auch der pochte nämlich darauf, dass angesichts der epidemischen Situation an Wahlen im Mai nicht zu denken sei. Bis zu diesem Augenblick war er als einflussreicher stellvertretender Ministerpräsident einer der tragenden Säulen in der Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Er musste zurücktreten und suchte sein Heil in der Flucht, nahm Kontakte auf zu konservativen und liberal-konservativen Kreisen in der Opposition. In den Medien wurde Gowin plötzlich als ein ernsthafter Kandidat gehandelt, um einer breit abgestützten Übergangsregierung vorzustehen, vorausgesetzt, ihm folgten weitere abtrünnige Abgeordnete aus dem Kaczyński-Lager.
Aus all diesen Plänen wurde nichts, das Regierungslager erwies sich als festgefügt, holte schließlich auch den herumirrenden Sohn zurück. Die Erklärung vom 6. Mai ist so gesehen ein Kompromiss, denn die Wahlen werden nun nicht mehr im Mai durchgezogen, so, wie Gowin es gefordert hatte. Doch Kaczyński bleibt in seinem Lager einstweilen der unbestrittene Herrscher, auch das konnte er noch einmal demonstrieren. An diesem 6. Mai mussten, bevor die Erklärung verabschiedet wurde, alle wichtigen Leute aus dem Regierungslager in Kaczyńskis legendäres Parteibüro pilgern, ein aus der Zeit gefallener Aufmarsch, denn solche Art demonstrativer Huldigung ließe ein an moderne Zustände gewöhnter Beobachter wohl nur noch gekrönten Häuptern durchgehen.
Kaczyński hatte versucht, im Schatten der Virus-Krise die heikle Frage der Präsidentschaftswahlen in seinem Sinne ungeniert vom Tisch zu bekommen – die schnelle Bestätigung des ihm hörigen Amtsinhabers. Das gewählte Risiko wurde nicht belohnt, im Gegenteil, er musste die Notbremse ziehen, was nun wieder die Perspektive eines offenen Machtkampfes zwischen dem nationalkonservativen Regierungslager und der demokratischen Opposition um das höchste Staatsamt eröffnet. Sollte der Amtsinhaber dann die Nase vorne haben, wäre es eine schlimme Niederlage für das demokratische Lager mit womöglich schwerwiegenden Folgen. Die Schwierigkeit wird darin bestehen, den Wahlkampf in der ersten Runde so zu gestalten, dass die einzelnen unterschiedlichen Richtungen zwar kenntlich sind und sichtbar bleiben, aber die gemeinsame Option für die Stichwahl nicht zugleich verschüttet wird. Insgeheim rechnet Kaczyński fest damit, dass die parlamentarische Opposition in der gespenstischen Corona-Zeit mindestens so viel Federn lassen musste wie seine regierende Formation.
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