Das Wichtigste zuerst: Die Frage, um die es bei den Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) am 5. Mai ging, war eigentlich die, ob Bundesregierung und Bundestag rechtens gehandelt haben, als sie unterließen, zu prüfen und darzulegen, ob die Ankäufe von Staatsanleihen durch die Europäischen Zentralbank EZB (das Public Sector Purchase Programme PSPP von 2015) „verhältnismäßig“ und durch das Mandat der EZB gedeckt waren. Das Urteil befasste sich natürlich auch damit, aber seine politische Brisanz liegt vor allem darin, dass ein nationales Verfassungsgericht sich erstmals gegen ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) stellte. Das Verfassungsgericht begründete seinen Dissens damit, das EuGH habe sich bei der Begründung seiner positiven Beurteilung des PSPP vom 11. Dezember 2018 zu der in sämtlichen Bereichen der Unionsrechtsordnung üblichen „methodischen Herangehensweise“ in Widerspruch gesetzt. Das in einer Gemeinschaft vom Zuschnitt der Europäischen Union unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen nationalem und EU-Recht, das „kooperativ“ auszugleichen und „durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen“ sei, habe das EuGH mit seinem damaligen Urteil „willkürlich“ und in einer „methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbaren“ Weise überdehnt, also ultra vires, kompetenzwidrig entschieden.
Abgesehen von dem damit heraufbeschworenen Streit der Juristen und Europarechtler ist mit diesem Spruch die Büchse der Pandora geöffnet worden. All diejenigen, die schon immer von einer Kompetenzanmaßung durch Brüssel und die Institutionen der Europäischen Union geredet haben, sehen sich nun höchstrichterlich bestätigt. Es macht nichts, dass Karlsruhe ein konkretes Urteil des EuGH und nicht die ganze Rechtsordnung der EU in Zweifel zieht, die Kritiker der EU in London, Budapest und Rom, in Prag und Warschau und auch hierzulande bekommen damit unverhofft Rückenwind. Nun wird bei allen anderen Fragen danach geforscht und in Zweifel gezogen werden, ob sich der Europäische Gerichtshof, aber natürlich auch die anderen EU-Institutionen bei der Beurteilung nationaler Politiken nicht auch eventuell außerhalb dieses Spannungsverhältnisses bewegen. In Downing Street 10 wird Boris Johnson feixen, aha, jetzt also auch Deutschland. Das wird in Zeiten bröckelnden Zusammenhalts und zunehmender Differenzen wohl jene bestärken, die nationale Alleingänge befürworten und Brüssel, die EZB und die EU überhaupt für den Hort allen Unheils halten.
Aber man kann es auch anders sehen. Schon immer haben auch progressive pro-europäische Kräfte, die nichtsdestotrotz Kritik an der EU, den Maastricht-Verträgen und dem EZB-Mandat geübt haben, von der Notwendigkeit eines „Neustarts“ der Union und der Währungsunion gesprochen. Ist mit der Infragestellung der Rechtsordnung nicht auch die Chance gegeben, entschiedener als das bisher der Fall gewesen ist, die demokratischen Defizite der Union zu benennen und Wege für einen „Neustart“ aufzuzeigen? Ist es nicht sogar unabdingbar, die Kritik an der Union und die Forderung nach einer Reform jetzt nicht jenen zu überlassen, für die das Urteil von Karlsruhe Wasser auf ihre national-konservativen und europafeindlichen Mühlen ist? Könnte also dem Urteil von Karlsruhe nicht auch die Chance zu einer progressiven Wendung innewohnen?
In der Hauptsache ging es beim Karlsruher Urteil aber gar nicht darum, sondern um die Frage, ob die EZB-Politik sich innerhalb ihres Mandats bewegt und ob Bundestag und Bundesregierung das hinreichend geprüft haben. Karlsruhe hat keineswegs verneint, dass der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB rechtens war, wie das in ersten, übereilten Stellungnahmen zu lesen war. Das Verfassungsgericht hat lediglich festgestellt, die EZB habe ihre Politik nicht unter dem Gesichtspunkt der „Verhältnismäßigkeit“ im Hinblick auf „alle wirtschaftspolitischen Auswirkungen“ geprüft und erläutert, und Bundesregierung und Bundestag hätten das hingenommen. Zur Verhältnismäßigkeit gehörten nicht nur die Sicherung der Preisniveau-Stabilität als vorrangigem Ziel der Geldpolitik, sondern auch die Auswirkungen auf den Bankensektor und die fiskalischen Rahmenbedingungen der Mitgliedsstaaten, sowie auf „nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer, jedenfalls mittelbar betroffen“ seien. Da eine dokumentierte und gerichtlich nachvollziehbare Abwägung der Folgen des PSPP nicht erfolgte, seien Bundesregierung und Bundestag verpflichtet gewesen, dieser Handhabung entgegenzutreten.
Dieser Teil des Urteils umfasst mehrere Aspekte. Der in Bezug auf das konkrete Ankaufsprogramm substanziellste Aspekt betrifft diese dokumentierte Abwägung der wirtschaftlichen Folgen des PSPP. Die EZB kann diese innerhalb von drei Monaten nachholen; erst dann dürfte sich die Deutsche Bundesbank nicht mehr an diesem Programm zu beteiligen. Diese Aufgabe wird die EZB wohl recht schnell erledigen können. Sie beschäftigt einen riesigen Stab an Wissenschaftlern und Analytikern, die seit Jahren eigentlich nichts anderes machen, als genau diese Folgen zu erforschen. Was dabei herauskommen wird, ist leicht vorauszusagen: Es wird gezeigt werden, dass die positive Seite der Rettung des Euro die mit dem Ankaufsprogramm verbundenen, möglicherweise negativen Folgen überwiegt. Was anders sollte die EZB denn sonst dokumentarisch nachweisen, dass sie falsch lag, dass sie es nicht genau weiß? Die seit Jahren andauernde Diskussion über diesen Punkt wird einfach nochmal unter dem Damoklesschwert dieses Urteils wiederholt. Das Ergebnis steht fest: Wie Wissenschaftler auch, beharrt die EZB auf ihrem Standpunkt, die Gegner beharren auf ihren Einwänden. Schon kurios, dass Gerichte den Streit der Wissenschaftler entscheiden sollen.
Was dann im Bundestag geschieht, ist ebenso absehbar. Man wird den Teufel tun, in Zeiten, da wegen des Corona-Shutdowns völlig zu Recht (von gewissen Bauchschmerzen abgesehen) ein riesiges Anleiheprogramm aufgelegt wird, gegen solche Programme in der Vergangenheit zu stimmen. Auch die Bundesbank wird sich aus diesen Programmen nicht zurückziehen, denn das wäre schon etwas anderes, als im EZB-Rat dagegen zu stimmen, um dann mit beruhigtem Gewissen EZB-Politik zu vollziehen. Schwieriger ist die Frage im Hinblick auf künftige Verfahren zu beantworten. Die EZB ist von Legislative und Exekutive unabhängig und ihr Mandat ist zuvörderst auf die Preisstabilität gerichtet, was natürlich die Sicherung der Existenz des Euro einschließt. Das Karlsruher Urteil bestärkt eigentlich jene, die diese „Unabhängigkeit“ von demokratisch gewählten Institutionen und die Einseitigkeit der Orientierung auf Preisstabilität schon immer kritisiert haben. Viele progressiv orientierte Ökonomen, von denen die Anleihekaufprogramme immer begrüßt wurden, haben jetzt ihre Schwierigkeiten mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, weil sie es als gegen dieses Programm gerichtet interpretieren. Aber ist es nicht genau das, was sie immer gefordert haben? Mehr demokratische Einbindung der EZB, Rückbeziehung auf den Souverän? Ausweitung des Zielspektrums über die Preisstabilität hinaus auf Wachstum, Beschäftigung, Verteilung? Dass diese Fragestellungen nun ausgerechnet an jenem Teil der EZB-Politik durchexerziert werden sollen, der von ihnen eigentlich nie infrage gestellt wurde, kann als unglücklich empfunden werden, aber geht es dabei nicht doch in die gewünschte Richtung? Und dies umso mehr, als das Verfassungsgericht das Anleihekaufprogramm selbst als durchaus konform mit dem Mandat der EZB betrachtet.
Die Büchse der Pandora ist geöffnet. In dem alten Mythos entwich ihr alles Unheil und bevor die Hoffnung, die sich ebenfalls darin befand, zutage kam, wurde sie vom Göttervater Zeus wieder verschlossen. Sollte die Büchse nicht doch offen bleiben, um die Hoffnung auf die Chance eines Neubeginns zu wecken?
Schlagwörter: Anleiheprogramm, Bundesverfassungsgericht, EU, Europäische Zentralbank, Gerichtshof der Europäischen Union, Jürgen Leibiger