Was ist eine Krise?
Krisen geben plötzlich den Blick auf Zukunft frei, sie komprimieren die geschichtlich gewachsenen Probleme und drängen in etwas Neues. Das Spektrum an unbemerkt herangereiften Möglichkeiten zeigt sich schlaglichtartig, und wir werden gezwungen, vom bisher beschrittenen Weg abzuweichen und eine andere Richtung einzuschlagen. Krisen lassen keine Zeit für Behäbigkeit, sie fordern heraus und entfalten Zwänge. So gesehen sind Krisen für uns Menschen extrem nützlich, da sie den Raum für Veränderung erweitern und gleichzeitig die uns eigenen Verdrängungsmechanismen ausschalten. So werden wir schonungslos mit der Not-Wendigkeit konfrontiert.
In welcher Krise stecken wir mit SARS-CoV-2?
Als im Jahr 1918 die Spanische Grippe aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges heraus zu einer Pandemie, also auch zu einer gesellschaftlichen Krise anwuchs, bevölkerten gerade einmal 1,3 Milliarden Menschen den Planeten Erde. Innerhalb nur eines Jahrhunderts hat sich die menschliche Population versiebenfacht und ist in die angestammten Lebensräume anderer Arten eingedrungen. Wir kennzeichnen den Eintritt in diesen Abschnitt der planetaren Entwicklung mit dem Begriff des Anthropozäns, ohne dass wir uns als Menschheit der damit entstandenen Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung bewusst werden. Für die Population der Viren sind wir nun ein gefundenes Fressen geworden, denn wir optimieren ihren Lebensraum. Die Viren sind genauso unerbittlich, wie wir. Und wir könnten eventuell darüber nachdenken, was uns von Viren unterscheidet. Die Fähigkeit der Selbstreflexion, die Fähigkeit innezuhalten, umzusteuern?
SARS-CoV-2 zeigt uns mit aller Deutlichkeit, dass wir Teil der Natur und Bestandteil evolutionärer Prozesse sind. Die schlechte Nachricht: Es gibt kein Ende der Viruskrise, höchstens ein Luftholen für wenige Jahre.Viren sind Weltmeister der Mutation und sie werden auch nach Corona unsere Schwachstellen finden und ausnutzen.
Das ist keine neue Erkenntnis. Virologen sehen diese Gefahren schon seit Jahrzehnten. Es war für uns alle bequemer, ihre Pandemiewarnungen in den Wind zu schlagen. Wir Menschen sind aber nicht nur Teil einer Mikro-, sondern auch Teil der Makronatur. In unserer Hybris haben wir uns auch auf anderen Gebieten über die Natur erhoben. Vermeintlich, wie die Klimakrise zeigt. Und wir werden von dort her dramatischere Einschränkungen und Verzichte auf uns nehmen müssen, als jene, die wir jetzt für einige Wochen erdulden sollen.
Fazit: Diese Form der Globalisierung, die uns das Anthropozän beschert, können wir nicht mehr ungeschehen machen. Wir müssen sie akzeptieren lernen und in unserem Überlebensinteresse in eine andere Richtung gesellschaftlicher Entwicklung fortschreiten.
Was wird wegweisend in der SARS-CoV-2 Krise?
Man kann zur Beantwortung dieser Frage keine allgemeine Formel entwickeln. Man kann nur aus den Interessenkollisionen, die wie Schlaglichter im Verlauf der Krise aufleuchten, auf wahrscheinliche Entwicklungen schließen. Indem ich aus meiner Perspektive solche Schlaglichter ausmache und meine Interpretation anfüge, möchte ich auf meine Weise einen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten.
Es versteht sich von selbst, die Gedanken sind frei. Es gibt unzählige andere Perspektiven und jeder kann andere Problemfelder entdecken und andere Interpretationen ableiten.
Es wäre begrüßenswert, würden meine Überlegungen einen lebendigen Gedankenaustausch auslösen.
Was ist der Mensch?
Ist es nicht frappierend, wie wir Menschen in der Krise zusammenwachsen, besser gesagt, wir erkennen, wie nahe wir uns alle sind und wie nötig wir uns als gesellschaftliche Wesen, als „geschwätzige Tiere“ haben? Das Virus macht uns alle gleich. Es nimmt keine Rücksicht auf Vermögen oder Position. Gnadenlos reißt es alle durch Menschen geschaffenen Barrieren nieder und konfrontiert uns mit der Frage, woher die Vereinzelung, in der wir bisher gelebt haben, gekommen ist?
Was und wer hat uns das eingepflanzt, wir seien egoistische Wesen, nur auf Eigennutz und persönlichen Vorteil bedacht? Kommen wir in der Krise nicht auf unser gemeinschaftliches und solidarisches Wesen zurück? Ohne Zweifel, es gibt Egoismus, Raffgier und Neid auch in der Krise. Aber das Aufleuchten unseres verschütteten Wesens macht uns optimistisch.
Wirtschaft versus Gesundheit
Wie gespenstisch war die Diskussion um die Ausrichtung der Olympischen Spiele. Tausende Sportler und hunderttausende Zuschauer sollten ab Juli, wider besseren Wissens, dem Virus geopfert werden, nur weil Milliardengewinne auf dem Spiel standen. SARS-CoV-2 hat auch im Olympischen Komitee und in der japanischen Regierung Vernunft erzwungen. Aber warum stehen sich private ökonomische und mehrheitlich, gesundheitliche Interessen diametral gegenüber? Warum gibt es für die große Industrie und das Finanzkapital nur die Erfolgsmaßstäbe Gewinn, Shareholder Value und Wachstum? Warum zählt nicht gleichermaßen das gesundheitliche Wohlergehen von 7,8 Milliarden Menschen?
Wer stellt die Regeln auf und in wessen Interesse werden sie gnadenlos umgesetzt?
Die Unversöhnlichkeit von Wirtschaft und Gesundheit, die sich als Krisen verschärfendes Moment zeigt, halte ich für längerfristig bedenkenswert. Zum einen bin ich froh, dass der Damm hält und der Forderung noch nicht nachgegeben wurde, die Alten zu opfern, damit die Wirtschaft überleben kann. Was wäre das für eine Zukunftsaussicht? Welche Menschengruppe würde es in der nächsten Krise treffen, damit eine privatwirtschaftlich organisierte Wirtschaftsform überlebt?
Zum anderen drängt sich die Frage auf, warum bei der Entwicklung eines Impfstoffes in Konkurrenz gearbeitet werden muß? Würden nicht tausende Menschleben schneller gerettet, wenn in einer konzertierten Aktion weltweit Wissen uneigennützig geteilt würde? Genauso fraglich ist es, Millionen EURO an Steuergeldern für die Erforschung von SARS-CoV-2 auszugeben und dann, wenn ein Impfstoff entwickelt oder Medikamente gefunden sind, das gesundheitliche Problem anhand von Nachfrage und Angebot privatwirtschaftlich zu lösen. Die Krise hat alle diese Fragen zugespitzt und wir sollten sie in einer nachfolgenden Verschnaufpause nicht aus dem Blick verlieren. Bleiben wir hellhörig und melden wir unsere Überlebensinteressen deutlich an.
Profitstreben im Gesundheitswesen versus Gesundheit für alle
Eventuell bekommen wir in Deutschland bei SARS-CoV-2 gerade nochmal die Kurve. Unser Gesundheitssystem ist noch nicht so kaputtgespart, wie das in Spanien, Italien oder Großbritannien der Fall ist. Mit hohem Aufwand wurden bei uns innerhalb von drei Wochen die Kapazitäten an Intensivbetten in den Krankenhäusern erhöht und niemand in politischer Verantwortung möchte heute an die Diskussion vor einem halben Jahr erinnert werden, als die Bertelsmann-Stiftung vorschlug, die Anzahl der Krankenhäuser von 1400 auf 600 zu reduzieren. Seit gut dreißig Jahren laufen in Deutschland permanent Kampagnen, gleichgültig welche politischen Parteien an der Macht sind, die jeweils nur eins zum Ziel haben: die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Pflege voranzutreiben.
Ökonomisierung bedeutet, die Gesundheit und die Pflege werden zu einer Ware, die Patienten und die Pflegebedürftigen werden zu Kunden, das Personal unterliegt dem Gewinnstreben, die Arbeitsplätze von Ärzten, Pflegepersonal und Therapeuten sind Kostenfaktoren, und sie sind aus Gewinnerzielungsabsicht so weit wie möglich zu reduzieren. Die Arbeitsdichte muss aus gleichem Grund ständig erhöht werden. Die Arbeitsbelastungsschraube wird so immer weiter angezogen und wer nicht mehr standhält und/oder unter der Last der Verantwortung zusammenbricht, der soll halt gehen. Vor der Tür stehen genügend Arbeitswillige, die nur darauf warten, in diesem Hexenkessel ausgekocht zu werden.
Der öffentliche Gesundheitssektor wird zu Gunsten des privaten Sektors zurückgedrängt und geschwächt. Internationale Hedge- und Investmentfonds dirigieren zunehmend die nationalen Gesundheitssektoren. In der Bankenkrise 2008/2009 erhielten Staaten nur dann finanzielle Unterstützung zur Rettung ihres Finanzsystems, wenn sie Auflagen erfüllten. Sprich, das Gesundheitssystem und andere (meist) soziale Bereiche zusammenstrichen und einen rigiden Sparkurs zu Lasten der Schwachen umsetzten. Bei allen Beteuerungen, die jetzt in der Krise ausgesprochen werden, später, wenn alles vorbei ist, Ärzte, Schwestern, Pfleger und Therapeuten besser bezahlen zu wollen und die Arbeitsbelastung zu reduzieren: Es wird wieder nur bei halbherzigen Versuchen bleiben, wenn nicht an die Wurzel des Übels gegangen wird. Gesundheit und Pflege sind keine Waren, Patienten und Pflegebedürftige sind keine Kunden, Gewinnmaximierung kann im Gesundheits- und Pflegesystem nicht an erster Stelle stehen, sondern die Gesunderhaltung der Bevölkerung , koste es, was es wolle.
Wenn dieses Paradigma der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Pflege nicht aufgebrochen wird, treibt uns jede nachfolgende Pandemie in die gleichen Problemsituationen.
Fundamentalistischer Glaube versus Wissenschaft
Eine Einschränkung vorab, um nicht missverstanden zu werden. Ich wende mich nicht gegen Glauben und Frömmigkeit, gleich in welcher Form, ob christlich, jüdisch, muslimisch, buddhistisch oder hinduistisch dominiert. Glaube schafft Zuversicht, Identität und innere Mitte. Warum soll das in dieser Welt nicht akzeptabel sein. Ich wende mich gegen den gläubigen Fundamentalismus, den es in jeder der oben genannten Religionen als Randerscheinung gibt und der sich prononciert gegen die Wissenschaften richtet. Vor einigen Tagen sah ich eine Reportage, in der der Reporter einen evangelikalen nordamerikanischen Priester fragte, warum er trotz der vielen Todesfälle(SARS-CoV-2) seine Gemeinde im engen Kirchenraum zusammenhole? Die hasserfüllte Antwort, die mit stoßweisem Atem aus ihm herausbrach lautete: „Wenn Gott es so will, werden meine Anhänger sterben.“
Ist SARS-CoV-2 Gott oder ist es nur ein berechenbares Virus, dem man mit vernünftigen, wissenschaftlich basierten Handlungen entgegen treten kann? Der fundamentalistische Glaube zieht bei weitem nicht nur die Leugner der Virusgefahr in seinen Bann. Impfgegner, Klimawandelleugner, Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme funken auf der gleichen Wellenlänge. Es ist allgemein sehr verlockend und durchaus menschlich, einer Gefahr durch Bewußtseinsausblendung zu begegnen. Die Präsidenten Brasiliens und Weißrußlands demonstrieren diese Haltung noch heute, da der Ernst der Lage weltweit offensichtlich geworden ist.
Man muss sich mit ideologischen Eiferern und fundamentalistisch Gläubigen inhaltlich auseinandersetzen und möglichst dafür sorgen, dass sie in keiner Krise die politische Verantwortung in den Händen halten.
Altes Sicherheits- versus neues Sicherheitsdenken
Bisher dominiert in der Politik ein Denken, dass Sicherheit mit militärischer Sicherheit gleichsetzt. SARS-CoV-2 reißt auch dieser unzeitgemäßen Eingrenzung gnadenlos den Schleier vom Gesicht. Man stelle sich vor, die USA hätten ihre Rüstungsausgaben , oder Teile davon, in Abwehrmaßnahmen zur Bekämpfung einer Virus Pandemie investiert? Jetzt fallen im „Krieg gegen das Virus“, in den man unvorbereitet eintritt, eventuell halb so viel US Amerikaner, wie im Zweiten Weltkrieg. Wofür würde sich die amerikanische Öffentlichkeit entschieden haben, hätte man ihr die Wahl gelassen zwischen Rüstung und Schutz ihrer Gesundheit?
Es geht bei weitem nicht nur um die USA. Die VR China setzt mehr und mehr auf militärische Hochrüstung, Westeuropa wird gezwungen, sich am 2-Prozent-Ziel abzuarbeiten. Frankreich gibt mehr Geld für Rüstung aus als die Russen, und jene modernisieren ihr Atomwaffenarsenal, als ob es nichts Wichtigeres zu tun gäbe. Was tobt da für ein Irrsinn, angesichts ganz anderer globaler Bedrohungen, wie SARS-CoV-2, dem Klimawandel und einer ungeschützt vorangetriebenen Digitalisierung des gesamten Lebens.
Wacht endlich auf, kehrt um, muss man rufen, das ist der falsche Weg. Bündelt eure Kräfte zur Abwehr neuer und bisher unterschätzter Gefahren und setzt die 1,8 Billionen Dollar, die weltweit für Rüstung pro Jahr verschwendet werden, endlich sinnvoll ein.
Digitalisierung versus Freiheit
Es gibt einen eindeutigen Gewinner der SARS-CoV-2-Krise. Digitale Unternehmen boomen. Lehrer bombardieren ihre Schüler über das Netz mit Hausaufgaben. Arbeitgeber wickeln große Teile ihrer Produktion mit Mitarbeitern ab, die zu Hause vor dem Computer sitzen. Während die Ladengeschäfte geschlossen wurden, läuft der Handel über das Netz auf Hochtouren. Ab 20.00 Uhr explodiert täglich die abgegriffene Datenmenge, weil jetzt Netflix sein Werk tun darf. Wer bis jetzt noch nicht im Netz unterwegs war, ob als User oder als Anbieter, wird es spätestens in dieser Krise tun.
Die Digitalisierung bietet ungeahnte Möglichkeiten. Es wäre aber fatal, die damit verbundenen Gefahren auszublenden.
Mit jedem Klick, mit der Eingabe jedes Suchbegriffes, mit dem Öffnen jeder Internetseite, mit jeder räumlichen Bewegung, die wir mit unserem Smartphone in der Tasche ausführen, geben wir Teile unserer Identität an unsichtbare Dritte weiter. Wie bei George Orwell überwacht uns der große Bruder und lenkt uns, (noch) sanft aber schon unnachgiebig, auf seine Ziele hin. Wer ist der große Bruder, kann er sicht- und damit greifbar gemacht werden, und wie können wir verhindern, dass er solche Krisen nutzt, um seine Macht durch Beschneidung unserer Freiheiten weiter auszubauen?
Sozialstaatliche Hilfsprogramme versus Sozialstaatlichkeit
Obwohl es in den USA sozialstaatliche Programme gibt, kann das jedoch nicht mit dem westeuropäisch/skandinavischen Sozialstaatprinzip gleichgesetzt werden. Die Sterblichkeitsrate durch SARS-CoV-2 wird in den USA auch deshalb höher liegen als im weltweiten Durchschnitt, weil dort immer noch Millionen Menschen keine Krankenversicherung besitzen und sie im Krankheitsfall nur als Kunden (Patienten) zweiter Klasse notdürftig behandelt werden. Wir können angesichts der Krise von Glück reden, dass die vielfältigen Bestrebungen, den Sozialstaat auch bei uns „in der Badewanne zu ertränken“, nur teilweise umgesetzt werden konnten. Wie oft haben in den letzten dreißig Jahren neoliberal orientierte Ökonomen und ihre Sprecher in der Politik betont, dass die deutschen Sozialabgaben viel zu hoch seien und die Freiheit des Individuums beschneiden.
Um die Freiheit des Individuums zu „erhöhen“, wurden Beteiligungen der Arbeitgeberseite zurückgefahren und der privat zu leistende Anteil an den Sozialabgaben hochgesetzt. Jetzt, in der Krise und ihrer nachfolgenden Bewältigung wird sich zeigen, welches Gut wir (Arbeitnehmer und Arbeitgeber) in Gestalt eines funktionierenden Sozialstaates besitzen.
Wir sollten uns der Bestrebungen seiner Beschneidung erinnern und zukünftig alles tun, ihn zu erhalten und wieder auszubauen.
Schlagwörter: Digitalisierung, Krise, SARS-CoV-2, Sicherheitsdenken, Sozialstaat, Ulrich Knappe, Wissenschaft