23. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2020

Über die Verwundbarkeit unserer Welt

von Petra Erler

Das Covid-19-Virus ritt auf den Wogen der Globalisierung von Wuhan bis in den letzten Winkel der Erde und stürzte auch die EU, die USA und Großbritannien in die Krise. Das geschah nicht nur, weil es Handel und Reisefreiheit gibt, sondern weil sich insbesondere die mächtigsten Zentren der Globalisierung viel zu lange in Sicherheit wiegten. China hat die Welt nicht betrogen. Am 31. Dezember 2019 meldete es der WHO eine unerklärliche neue Lungenerkrankung. An diesem Tag war das Genom des Virus entschlüsselt worden. Die WHO wurde am 2. Januar 2020 aktiv. Seit dem 10. Januar teilen die chinesischen Wissenschaftler ihre Erkenntnisse über ein wissenschaftliches Grippe-Netzwerk der WHO, das in Bonn ansässig ist. Diese globalen Netzwerker machten es möglich, dass ein erster Test bereits im Februar vorlag.

Politische und ökonomische Rivalität, gepaart mit westlicher Arroganz und Überlegenheitsgefühlen, führten allerdings zu verheerenden Fehleinschätzungen. Kaum einer fragte, warum China trotz der bevorstehenden Neujahrsfeier, die dort die wichtigste Familienfeier im Jahr ist, am 23. Januar die Abschottung von 43 Millionen Menschen anordnete, bei gerade mal 444 erkannten Infizierten. Wie bewerteten das die vielen Chinaexperten, wie unsere angeblich allwissenden Geheimdienste?

Tatsächlich betrachtete der Westen die Ereignisse in Wuhan als chinesisches Problem, die Abschottung unterstrich nur die Grausamkeit des Regimes. Es gab einige Stimmen, die warnten. Niemand hörte ihnen zu. Kaum einer interessierte sich dafür, wie Staaten wie Südkorea  oder Singapur reagierten, denn die schlitterten nicht in die Katastrophe, sondern verhielten sich adäquat. Sie hatten aus dem SARS-Ausbruch 2003 gelernt.

Gesundheitsexperten der EU-Agentur, dem European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), waren am 26. Januar 2020 der Meinung, die Mitgliedstaaten seien gewappnet, falls mal einer das Virus einschleppen sollte. Am 30. Januar 2020 traf sich der Notfallausschuss der WHO zum Covid-19-Virus zum zweiten Mal und plante, sich in drei Monaten (oder früher) wieder zu treffen. Dieser Ausschuss hat 15 Mitglieder und sechs Berater. Von diesen Beratern kamen vier aus westlichen Ländern, einer aus der EU, einer aus China. Medizinische Kontrollen von Einreisenden oder gar Reiseeinschränkungen, wie sie die Trump-Administration Ende Januar gegenüber China verhängte, zogen sie nicht in Betracht. Am 31. Januar 2020 mogelte sich die WHO um das Ausrufen einer Pandemie herum. Trump hatte Ende Januar den richtigen Instinkt, aber wenn die wahlkämpfenden USA-Demokraten Rassismus und Panikmache unterstellen, dann stimmt der ganze westliche liberale Mainstream umgehend zu und vergisst zu denken. New York Times und Washington Post mokierten sich über jeden, der besorgt war. So ging wertvolle Vorbereitungszeit verloren.

In den veröffentlichten EU-Erklärungen sucht man vergebens einen Hinweis auf die gesundheitliche Gefährdung von Bürgerinnen und Bürgern oder gar menschliches Leid. Sie sind geschrieben im Anspruch, im Zentrum des Geschehens zu sein, obwohl man längst ins Abseits geraten war, politisch und menschlich sowieso. Und dann ging es Schlag auf Schlag. EU-Staaten, einschließlich Deutschland, verfügten ohne Absprache Grenzschließungen, bis schließlich, um noch irgendeinen Anschein von Regelungshoheit zu wahren, aus Brüssel der Vorschlag kam, die Außengrenzen der EU zeitweilig abzusperren. Einmal traten die EU-Staats- und Regierungschefs per Videokonferenz zusammen, um über Covid-19 zu beraten. Beim Gipfel am 22. Februar war das kein Thema. Man stritt sich über den Haushalt bis 2027, den man wahrscheinlich jetzt auch vergessen kann.

Nationale Reaktionen auf die Pandemie warfen EU-Regeln völlig über den Haufen. Schlimmer noch, die in Sonntagsreden beschworene Gemeinsamkeit versagte. Die Deutschen brauchten ihre Schutzausrüstungen, italienische Bitten um Hilfe stießen auf weitgehend taube Ohren. China sprang schließlich ein und griff Italien unter die Arme. Inzwischen ist die Lage explodiert und China, Russland und Kuba helfen glücklicherweise. Deutschland nahm einige italienische und französische Akut-Patienten auf. Nun stecken wir in einer multiplen Krise, die das Funktionieren unserer Gesellschaften auf eine extreme Belastungsprobe stellt.

Am 17. März etablierte die EU Kommission einen wissenschaftlichen Beraterstab zu Covid-19. Mittels „Euractiv“ wies sie jede Verantwortung für die Lage zurück und behauptete, neue Kompetenzen wären das Allheilmittel. Sie hätte von Anfang an gewarnt. Am gleichen Tag allerdings fiel die Kommissionschefin ihren eigenen Diensten in den Rücken. Sie erteilte lieber sich selbst die Absolution, mit Hilfe eines imaginären „Wir“: „Wir ja, die keine Experten sind, haben das Virus unterschätzt.“ Dann setzte sie sich flugs aufs hohe Ross. Sie glaube, dass in den kommenden harten Zeiten „die Bevölkerung gut mitmachen“ werde. An diesem Tag waren in Italien bereits die Leichenhallen überfüllt. Trauerfeiern gab es längst nicht mehr. Mit „Nachricht aus der Zukunft“ sandten Italiener am 13. März eine Video-Botschaft in die Welt: Wiederholt nicht unsere Fehler! Sie nahmen eine Schuld auf sich, die sie gar nicht trugen. Dank solcher Menschen könnte es gelingen, die europäische Idee zu retten.

Die Kommission war beim Schwarze-Peter-Spiel in bester Gesellschaft. Die Washington Post ließ wissen, die USA-Geheimdienste hätten bereits im Januar den Präsidenten alarmiert. Nur den? Sonst trompeten anonyme „Sicherheitskreise“ alles Mögliche in die Welt und bei einer aufziehenden Pandemie ließen sie alle im Regen stehen? Joe Biden behauptete inzwischen auch, bereits am 27. Januar gewarnt zu haben. Der NATO-Generalsekretär forderte umgehend höhere Rüstungsausgaben, wegen des Virus.

Solche Stellungnahmen folgen den Machtinteressen. Niemandem soll auffallen, dass die große Krise nicht das Werk eines politischen Gegners war, sondern der Evolution: ein tierisches Virus, das den Mensch als neuen Wirt entdeckte. Es ist ein weitgehend unbekannter und unberechenbarer Feind.

Die aktuelle Pandemie legt die Stärken und Schwächen unserer Gesellschaften gnadenlos offen. Nun zeigen Menschen ihr wahres Gesicht; wer politisch führt und wer nicht, wer über sich hinauswächst und wer nur ein Egoist und karrieristischer Dummschwätzer ist. Nun entblößen sich diktatorische Versuchungen, entlarvt sich, dass shareholder value der schlechtestmögliche Antriebsmotor einer Marktwirtschaft ist. Der erbarmungswürdige Zustand des Gesundheitssystems in vielen Ländern, die Folgen von Niedriglohnpolitik und prekären Beschäftigungsverhältnissen machen die Krisenbewältigung so schwierig. Auch die Raubtiere werden enttarnt: Die, die aus der Pandemie noch mehr Profit zu schlagen versuchen oder von Überreaktion schwafeln, während in Krankenhäusern apokapalyptische Zustände herrschen oder heranziehen.

Nun zeigt sich, wie erbarmungslos es ist, Flüchtlinge auf griechischen Inseln zusammengepfercht zu lassen, wie unmenschlich Sanktionen sind, die den Zugang zu Medikamenten abschneiden. In welch humanitäre Katastrophe die wirtschaftlich schwächsten Länder der Erde geraten könnten, kann man sich ausmalen. Gleichzeitig werden Tabus gebrochen, bislang Undenkbares wird Wirklichkeit. Der UN- Generalsekretär forderte einen globalen Waffenstillstand. In Spanien und Irland sind Privatkliniken nun unter staatlicher Kontrolle. Der französische Staat sichert die Grundversorgung seiner Bürgerinnen und Bürger und das Überleben von Geschäften zu. Überall werden Obdachlose von der Straße geholt. Die Sparpolitik wird gekippt und Billionen werden in Hand genommen, um uns durch die Krise zu steuern. Aber es gibt auch Versuchungen, die Pandemie zur Aushöhlung von Grundrechten zu benutzen.

Wie wird es sein, wenn die Menschheit das alles durchgestanden, Medikamente und einen Impfstoff gefunden hat? Wird in Europa vergessen werden, dass sich EU-Institutionen als herzlos und inkompetent erwiesen, die sogenannte europäische Solidarität eine Schönwetterveranstaltung ist? Wie werden wir den Zusammenhalt in der EU schützen, wenn er in Zeiten höchster Not zur Schimäre verkommt? Wie werden wir denjenigen die Stirn bieten können, die im Nationalismus den Weg der Zukunft sehen? Mit der üblichen Europa-Rhetorik wird dem nicht zu begegnen sein.

Die Überlebenden werden anders sein, nach der gewonnenen Schlacht. Das ganze Ausmaß der Verluste, Traumata und Verwerfungen wird erst sehr viel später sichtbar werden. Die täglich anschwellenden Todeszahlen sind nur ein Ausschnitt des Leids, das über viele hereinbricht. Werden sie gelernt haben, dass nur solidarische Gesellschaften für die Bewältigung einer Pandemie taugen und globale Kooperation unbezahlbar ist? Täglich erleben wir, dass sehr viele Geringverdiener, die sogenannte Unterschicht, wie Salz sind, unentbehrlich, dass Krankenhausärzte, die viel weniger verdienen als andere Vertreter ihres Stands, bis zum Umfallen arbeiten. Ein gesellschaftliches „Weiter so“ wäre fatal.

Das gilt auch für das Konzept der politischen Konfrontation, Polarisierung und Ausgrenzung. Trotz Pandemie sind die Spalter emsig am Werk: Russland wolle mit seiner Hilfe nur den Westen zu schwächen, die Chinesen würden nur helfen, um mehr Einfluss zu gewinnen, sie lügen, wären an allem schuld. Niemand sollte diesen Leuten mehr zuhören, sie taugen nichts. Man muss sich nur fragen, was geschehen wäre,  wenn China, bei nur knapp 450 erkannten Infektionen, nicht sofort die betroffene Provinz abgeriegelt und stattdessen auf die „Durchseuchung“ von 60 bis 80 Prozent seiner Bevölkerung gesetzt hätte? Wir stünden nicht am Abgrund, er hätte uns verschlungen.