22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Sanktionen und Reaktionen

von Hubert Thielicke

Das Jahresende bietet ein gemischtes Bild: Während der Pariser Gipfel im Normandie-Format vorsichtige Zeichen der Entspannung erkennen ließ, verschärfen die USA ihre Sanktionen gegen den Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2. Im Schatten dieser Ereignisse blieben jüngste Entwicklungen in den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet.
Am 6. Dezember traf sich Russlands Präsident Wladimir Putin in Sotschi mit Vertretern der deutschen Wirtschaft, darunter die Chefs von Siemens, Bayer, Metro und Wintershall. Auf russischer Seite nahmen neben Ministern aus dem wirtschaftlichen Bereich auch die Spitzen von Rosneft, den Russischen Eisenbahnen und der Sberbank teil. Putin betonte die gute Tradition solcher Treffen; immerhin sei Deutschland ein wichtiger Handelspartner, weltweit die Nummer 2 nach China. Allerdings hätte Deutschland vor gar nicht langer Zeit Platz 1 eingenommen. Es sei zu hoffen, dass es dahin zurückkehre. Die kurz vor der Fertigstellung stehende Gaspipeline Nord Stream 2 sei ein kommerzielles Projekt. Russland plane nicht, den Gastransit durch die Ukraine einzustellen. Hier gehe es nicht um das Territorium, sondern den wirtschaftlichen Nutzen.
Die Vertreter der deutschen Wirtschaft sprachen sich für den Beginn eines Dialogs über einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok aus. Sie äußerten die Hoffnung, dass Deutschland 2021 Partnerland des Petersburger Wirtschaftsforums werde. Im Rahmen des Treffens platzierte die Deutsch-Russische Außenhandelskammer (AHK) drei Themen, die für deutsche Unternehmen in Russland von besonderer Bedeutung sind: die Zusammenarbeit bei der Dualen Ausbildung, die Abfallwirtschaftsreform und die Gleichbehandlung von in Russland produzierenden deutschen Firmen bei der Auftragsvergabe durch staatliche Stellen.
Vor dem Treffen hatte der Ostausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft (OAOEV) über jüngste wirtschaftliche Entwicklungen in Russland und die deutsch-russischen Handelsbeziehungen informiert. Seiner Einschätzung zufolge erholt sich die russische Wirtschaft weiter von der längsten Rezessionsphase seit den frühen 1990er Jahren. Ursachen dieser Krise seien vor allem gewesen: der starke Rückgang der Rohölpreise seit 2014, die unzureichende Diversifizierung der Wirtschaft, die zu hohe Staatsquote, die modernisierungsbedürftige Infrastruktur, die zu verhaltene Bekämpfung der Korruption wie auch die westlichen Sanktionen, insbesondere im Hinblick auf den Finanz- und den Erdölsektor. Nach wie vor sei die Rohstoffwirtschaft das Rückgrat der Wirtschaft; das Steigen der Rohstoffpreise seit 2017 trage zur ökonomischen Erholung bei. Die Industrieproduktion stieg in den ersten 10 Monaten 2019 um 2,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, die landwirtschaftliche Produktion sogar um 4 Prozent.
Die Ende 2019 vom OAEOV und der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer (AHK) unter deutschen Unternehmen in Russland durchgeführte Geschäftsklima-Umfrage widerspiegelt die Lage der russischen Wirtschaft. Für 2020 erwarten 43 Prozent der beteiligten 112 deutschen Unternehmen eine leicht positive Entwicklung. Die eigene Geschäftslage bezeichneten 41 Prozent als gut oder sehr gut, 47 Prozent als befriedigend. Als größte Störfaktoren der Geschäftstätigkeit in Russland werden die Bürokratie und die (schwache) Konjunkturentwicklung, aber auch protektionistische Hürden gesehen. Westliche Sanktionen hätten dagegen an Bedeutung verloren.
Als Reaktion auf die Sanktionen verstärkte die russische Regierung ihre Anstrengungen zur Lokalisierung und zur Importablösung. Ein Beispiel für Lokalisierungsprojekte deutscher Unternehmen ist das Mercedes-Werk nahe Moskau, das 2020 seine Produktion aufnehmen soll.
Ab Sommer 2016 kehrte sich die seit 2013 rückläufige Entwicklung im deutsch-russischen Handel um. Das Handelsvolumen wuchs von 48 Milliarden (2016) auf 62 Milliarden Euro (2018). In den ersten neun Monaten 2019 sind die deutschen Exporte nach Russland um 2,5 Prozent gestiegen, während es beim gesamten deutschen Export nur 0,9 Prozent waren. Das alles bleibt freilich weit hinter dem Rekordjahr 2012 zurück, als sich das bilaterale Handelsvolumen auf 80 Milliarden Euro belief. Unter den deutschen Exportmärkten in Mittel- und Osteuropa belegt Russland laut OAOEV-Geschäftsführer Michael Harms nur noch Platz vier.
Zwischen 2013 und 2018 hat sich der Gesamthandel der EU mit Russland um über 22 Prozent verringert, von 327 Milliarden auf 254 Milliarden Euro. Vor allem für China, aber auch andere nicht an den Sanktionen beteiligten Länder wie die Schweiz, die Türkei, Südkorea, Brasilien, Ägypten oder Israel ergaben sich damit Chancen, deutsche und EU-Marktanteile in Russland zu besetzen. So lieferten chinesische Unternehmen 2016 erstmals mehr Maschinen nach Russland als ihre deutsche Konkurrenz.
Unterschiedliche Einschätzungen gibt es zur Rolle von USA-Unternehmen. Nach Auffassung des OAOEV lässt sich die These nicht belegen, dass diese Unternehmen aufgrund einer cleveren Sanktionspolitik Marktanteile in Russland gewinnen konnten. Dagegen verwies der russische Außenminister Sergej Lawrow auf der Pressekonferenz mit seinem Kollegen Mike Pompeo in Washington am 10. Dezember darauf, dass der Handel zwischen Russland und den USA seit der Amtsübernahme durch Präsident Donald Trump von 20 Milliarden auf 27 Milliarden US-Dollar gewachsen sei – trotz Sanktionen. Nach Meinung Anatoli Antonows, Botschafter Russlands in Washington, sind die USA die Nummer Eins bei Direktinvestitionen in Russland. Fakt ist: Die Kosten der Sanktionen tragen neben Russland im Wesentlichen die EU-Staaten, vor allem die deutsche Wirtschaft, deren Anteil am Handel EU-Russland 25 Prozent beträgt.
Mit neuen extraterritorialen Sanktionen versuchen die USA derzeit, Nord Stream 2 buchstäblich auf den letzten Kilometern zu stoppen. Verkündet sind Maßnahmen gegen Firmen, deren Schiffe an der Verlegung der Ostseepipeline und der Pipeline TurkStream (Südrussland – Türkei) beteiligt sind. Als „Schlag gegen Europa und den engen Bündnispartner Deutschland“ kritisierte Rainer Seele, Präsident der AHK und Vorstandsvorsitzender des Öl- und Gaskonzerns OMV, die USA-Politik. „Es ist an der Zeit, dass Berlin und Brüssel eine klare politische Position beziehen und mit gezielten Gegenmaßnahmen antworten. Auf dem Spiel steht die energiepolitische Unabhängigkeit Europas.“ Denkbar wäre diesbezüglich manches, nicht nur Maßnahmen gegen Versuche der USA, den Absatz ihres Flüssiggases in Europa mit unlauteren Mitteln zu fördern. Warum nicht endlich offizielle Beziehungen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) aufnehmen? Der Organisation gehören neben Russland auch Armenien, Belarus, Kasachstan und Kirgistan an, erste Freihandelsabkommen wurden mit Vietnam, Serbien und Singapur abgeschlossen. Nach EU-Vorbild werden Handels- und Wirtschaftspolitik zunehmend integriert und an die in Moskau ansässige Eurasische Wirtschaftskommission (EAWK) übertragen. Ein einheitlicher eurasischer Wirtschaftsraum böte auch große Vorteile für westliche Investoren. Nach Meinung des OAOEV könnte die Vereinheitlichung von Normen und Standards der EAWU mit den Bestimmungen der EU der nächste Schritt sein. Bereits heute stehen deutsche Firmen in direktem Kontakt mit der EAWK.