von Stephan Wohanka
Göttlich ist der, wer sich selber bezwingt.
Die Meisten sehen ihren Ruin vor Augen; aber sie gehn hinein.
Leopold von Ranke
Die Menschen finden sich in ein verhaßtes
Müssen, weit leichter als in eine schwere Wahl.
Friedrich Schiller, nach Volker Braun
„Adam Smith und andere Denker der so genannten Klassischen Nationalökonomie entdeckten die Existenz des Marktes und der Marktwirtschaft als natürliche Ordnung“, ist im Umfeld des „Ludwig von Mises Institute“ zu lesen. Schon der Nachfolger dieser Denker, Karl Marx, wusste, dass „die kapitalistische Produktion … nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (entwickelt), indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ Das war scharfsinnig beobachtet. Man muss die Aussage allerdings als Tendenz, nicht als „Gesetz“ lesen. Denn der Kapitalismus ist ein lernfähiges System, das bisher jede Schwächung in Innovation verwandeln konnte. Ob weiterhin?
Was den „Arbeiter“ angeht, so ist – in Industriestaaten – dessen Ruin dank der politisch organisierten Arbeiterbewegung einigermaßen gestoppt, ja ins Gegenteil verkehrt: Institutionen wie Gewerkschaften, Sozialversicherungen, Tarifverträge, Mitbestimmung und eine staatliche Gesetzgebung führten zu steigender Lebenserwartung und höherem Lebensstandard der Menschen; der Anstieg der Massenkaufkraft führte zur modernen Konsumgesellschaft. Sie ist in Teilen fragwürdig und nicht alle partizipieren im gleichen Maße, aber welch ein Unterschied zur Armut früherer Zeiten. Die soziale Einhegung des Kapitalismus ist zwar immer noch ein aufs Neue umkämpfter, von Rückschlägen bedrohter Prozess, aber entgegen aller Unkenrufe ist sie auch im Zeitalter der Globalisierung nicht außer Kraft gesetzt. In weniger entwickelten Staaten ist des „Arbeiters“ ruinöse Ausbeutung noch weit verbreitet, aber auch dort zeigen sich Tendenzen der Besserung; auch dort steigen Bildungsniveau und Massenkaufkraft, wachsen die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit und die Bedeutung des „Humankapitals“ für die Wirtschaft. Alles in allem – der abstrakte „Arbeiter“ scheint in seiner historischen und globalen Existenz gesichert.
Nicht so die „Erde“! Der „Arbeiter“ war und ist dabei, sie gründlich zu ruinieren – trotz jahrzehntelanger Warnungen. Alle Indikatoren und Phänomene zeigen kaum eine Besserung an, eher das Gegenteil. Diese Logik der Selbstausrottung, worin liegt sie? Im „Arbeiter“?
Marx trennt „Arbeiter“ und „Erde“; sie sind grundlegende Produktionsfaktoren. Aus einer anderen Sicht, einer biologischen, sind sie beide Natur! Der Mensch – in weiten Teilen identisch mit dem „Arbeiter“ – ist durch eine Jahrtausende währende Evolution mit der Gabe der Reflexion über die ihm äußere, belebte und unbelebte und seine eigene, innere Natur ausgestattet, was ausmacht, dass er beide zu erkennen und zu formen vermag. Und es ist nicht trivial, dass das Subjekt des Beobachtens Teil der von ihm beobachteten Phänomene ist. Ein wirkliches „Außerhalb“ kann der Mensch jedoch nicht für sich in Anspruch nehmen. Die Natur bietet ein Bild voller Schönheit und Komplexität. Ist so überhaupt eine vollständige, „objektive“ Beschreibung ebendieser Phänomene möglich? Namentlich was die Erkenntnis der Natur als Geflecht selbstorganisierter ökologischer Systeme angeht oder auch die Kaskaden der Nahrungsketten.
Wenn es sich, wie eingangs zitiert, bei der Marktwirtschaft vulgo Kapitalismus um eine „natürliche Ordnung“ handelte, so ist das eine Metapher – warum gerade diese Metapher? Der Einzelne kann, ja muss diese Ordnung als „natürlich“ empfinden – er wurde in diese Ordnung hineingeboren, er kennt nichts anderes. Kollektiv wie Naturgewalten wirkende Mächte waren und sind es, die die Natur und auch ihn und alle anderen in diese Ordnung gezwungen haben: Macht über Ressourcen, Macht über Zeit, Macht über einander. Diese Mächte verdichteten sich zu dieser vermeintlich „natürlichen“ Ordnung, zu einer globalen Ökonomie, in der fortdauernd das lineare Muster der Produktion des „Reichtums“ dominiert: Stoffentnahme aus der „Erde“ – Stoffverarbeitung – Wegwurf der produktiven und konsumtiven Exkremente mit all seinen offenen und verdeckten Folgewirkungen. Wissenschaft und Technologie werden von einer Ökonomie angetrieben und in Gang gehalten, deren Zweck weniger die Reduzierung der Mühen und die Erleichterung der menschlichen Existenz ist, sondern eher die Produktion akkumulierbaren Mehrwerts. Ist das „natürlich“? Natürlich nicht! Das ist „menschlich“, menschgemacht: Der Mensch, in Gestalt des „Arbeiters“, unterwirft sich die Natur – macht sie so zur „Erde“ – und schafft eine Ordnung, die nicht nur systematisch ihre eigenen „Springquellen untergräbt“, sondern in naher Zukunft unseren Planeten in einen unerträglichen, schwer bewohnbaren Ort wandeln könnte und so den Menschen zum Opfer seiner selbst machen kann. Die Spezies Mensch ist zu dem Scheideweg ihrer Existenz gelangt – revolutioniert sie die „natürliche Ordnung“, den Umgang mit der Natur und mit sich selbst oder aber riskiert sie ihre eigene Existenz; die äußere Natur überlebte ohne sie.
An dieser Stelle kommt wieder der „Arbeiter“ ins Spiel. Oben ist die rhetorische Frage gestellt, ob er nicht hinter der „Logik einer Selbstausrottung“ stehe? Ist es nicht vielleicht so, dass die weitgehend gelungene Sicherung seiner abstrakten Existenz, desgleichen oben behauptet, damit erklärbar wäre, dass er die „Erde“ über Gebühr in Anspruch nimmt? Sich also zu ihren Lasten selbst entlastet? Indem er seinen eigenen „Ruin“ abschwächt, gar aufhält durch einen umso stärkeren der „Erde“? Nochmal Marx: „Naturelemente, die in die Produktion als Agentien eingehen ohne zu kosten, …, gehen nicht als Bestandteil des Kapitals in sie ein, sondern als Gratisnaturproduktivkräfte des Kapitals….“ Der „Arbeiter“ – bei Marx als Agent der kapitalistischen Produktionsweise – nimmt auf Naturkräfte und Naturressourcen – die „Erde“ also – keinerlei Rücksicht, weil sie eben nichts kosten. Es hat sich jedoch erwiesen, dass diese Ausbeutung der „Gratisnaturproduktivkraft“ dem „Arbeiter“ generell, unabhängig von der „Gesellschaftsordnung“, zugerechnet werden kann, ja muss! Im Sozialismus ging man mit den „Springquellen allen Reichtums“ genauso rabiat um wie im Kapitalismus. Insofern haben Marx´ obige Thesen einen überhistorischen, allgemeingültigen Charakter; sie beschreiben grundsätzlich den Umgang des „Arbeiters“ mit der „Erde“. Und der wurde und wird immer noch brutaler, raumgreifender, systematischer. Wissenschaft und Technik dienten und dienen dazu, die in den Zeitskalen immer gleiche instrumentelle und nicht naturgeneigte oder -schonende Rationalität im Handeln des „Arbeiters“ zu befördern; deren Wirkungen auf die verschiedenen Sphären der menschlichen Existenz waren und sind höchst unterschiedlich. Mit fatalen Folgen.
Heute sagt uns nicht nur unser Gefühl, sondern sagen es die Zahlen: Wir nähern uns einem „Kipppunkt“. Man weiß nicht um sein Wann, jedoch um seine Natur – sie ist physikalisch und entzieht sich so allen (politischen) Drehs und Tricks: Wir sind nicht nur an die Grenzen der „Produktion akkumulierbaren Mehrwerts“ gekommen, die äußerst absichtsvoll und außerordentlich rücksichtslos in die Sphären der „Erde“ eingriff und eingreift. Sondern es sind die Grenzen jedweder Produktion erreicht und schon überschritten, die es unterlässt, „ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell (zu) regel(n) und unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle (zu) bring(en), statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden…“ – so wiederum Marx schon vor 150 Jahren.
Der Mensch muss – um zu überleben – den „Arbeiter“ in sich zurückdrängen, domestizieren, denn „göttlich ist der, wer sich selber bezwingt.“ Oder bleibt doch nur das „verhaßte Müssen“; noch schlimmer – den „Ruin vor Augen“ habend, „gehn sie hinein“?
Schlagwörter: Arbeiter, Erde, Marx, Mensch, Natur, Produktion, Stephan Wohanka