22. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2019

Vor einer Krise oder mitten drin?

von Jürgen Leibiger

Die vom offiziellen US-amerikanischen Business Cycle Dating Committee – so was gibt es tatsächlich – für mehr als 150 Jahre berechneten Daten besagen, dass die Aufschwünge des US-Konjunkturzyklus in der Nachkriegszeit mit 58,4 Monaten fast doppelt so lang waren wie in den Jahren zwischen 1854 und 1945. Der jetzige Aufschwung begann in der zweiten Jahreshälfte 2009 und dauerte zumindest im ersten Halbjahr 2019 noch an. Das sind außerordentliche 120 Monate. Das gilt, werden die beiden Quartale 2012/2013, in denen das Bruttoinlandsprodukt leicht schrumpfte, außen vor gelassen, auch für Deutschland.
Der Lauf der kapitalistischen Konjunkturen ist nun aber von einem industriellen Zyklus bestimmt. Der steigende Anteil der Dienstleistungswirtschaft, die gewachsene Bedeutung des Staates und der staatlichen Wirtschaftspolitik wirken zwar modifizierend, aber die stoffliche Grundlage des Wachstums wird auch weiterhin von der Industrie und den Investitionen gelegt. Während die deutschen Anlageinvestitionen in den vergangenen zehn Jahren um 38 Prozent stiegen, wuchs der Konsum nur um 14 Prozent, eine Diskrepanz, die sich irgendwann in Überkapazitäten bemerkbar machen musste. Das BIP wuchs zwar noch, aber die Industrie steht schon im Sturm. Der Auftragseingang, die Kapazitätsauslastung und die Produktion in der Industrie sinken seit zirka einem Jahr. Auch die Geschäftserwartungen der Unternehmer – gemessen am ifo-Index – und das Vertrauen der Konsumenten trüben sich zunehmend ein. Daran mögen die durch die verschärften Handelskonflikte und den bevorstehenden Brexit hervorgerufenen Unsicherheiten in einer besonders exportabhängigen Wirtschaft wie Deutschland ihren Anteil haben, aber natürlich spielen auch die Erfahrungen mit den beiden Krisen der vergangen zwei Jahrzehnte und die Realität der aktuellen Industriekonjunktur ihre Rolle.
Auf der Oberfläche des Arbeitsmarktes scheint, glaubt man den Nachrichtenmeldungen der Leitmedien, noch alles in Ordnung zu sein. Ein etwas genauerer Blick zeigt jedoch auch hier erste Bremsspuren. Laut Septemberbericht der Bundesagentur für Arbeit verlangsamte sich der Beschäftigungszuwachs, und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist zwischen Mai und Juli sogar etwas gesunken. Die Anzahl der Personen, für die Kurzarbeit angezeigt wurde, hat sich, obwohl immer noch relativ gering, seit Jahresbeginn immerhin verdoppelt; viele Industrieunternehmen erwarten einen weiteren Anstieg. Die als offen gemeldeten Stellen gehen seit einem Jahr zurück. Eine ganze Reihe großer Konzerne und Banken wie Bayer, BASF, Siemens, Miele, Schaeffler, Commerz- und Deutsche Bank haben Stellenabbau angekündigt, und die Arbeitslosigkeit wird im Herbst mit großer Wahrscheinlichkeit steigen.
In der Weltwirtschaft insgesamt hat sich Lage ebenfalls gedreht. Das Wachstum ist deutlich schwächer geworden, und das Welthandelsvolumen ist seit dem vierten Quartal 2018 gesunken. Auch nahezu alle Frühindikatoren für die Weltkonjunktur sind seitdem rückläufig. In der USA-Finanzwirtschaft zeigten sich Mitte September beträchtliche Liquiditätsengpässe ab, so dass die kurzfristigen Zinsen zeitweise bis auf zehn Prozent kletterten und die Zentralbank massiv Geld einschießen musste. Die Börsenkurse haben zwar seit Jahren immer neue Höchststände erklommen, aber bisher endete jeder Boom in einem Crash. Der vielleicht wichtigste Index, der amerikanische Standard & Poors 500 jedenfalls sank im vergangenen Monat.
Steht erneut ein „schwarzer Freitag“ bevor?
Bisher ereigneten sich solche Börsencrashs fast immer im Herbst.
Es ist interessant, dass die konjunkturelle Lage und deren Aussichten heute in vielen Kommentaren kaum positiv beschrieben werden; in der soeben veröffentlichten Gemeinschaftsdiagnose der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute ist die Prognose mit „Industrie in der Rezession – Wachstumskräfte schwinden“ überschrieben, und eine große deutsche Zeitung titelte jüngst: „Rezession mit Ansage“.
Das war in der Krise 2007/2009 noch völlig anders. Geradezu legendär die Frage der englischen Queen an die im Herbst 2008 an der London School of Economics versammelte wirtschaftswissenschaftliche Elite: „Why no one saw the crisis coming?“. Viele Ökonomen datieren den Beginn der damaligen Krise auf September 2008, als Lehmann Brothers zusammengebrochen war. Aber auch seinerzeit befand sich die Realwirtschaft, der nicht-finanzielle Sektor, seit über einem Jahr in einer gefährlichen Situation. Die Indizes, mit denen die Erwartungen gemessen werden, sanken auch damals seit einem Jahr, Auftragseingang und Kapazitätsauslastung waren zurückgegangen und wichtige Wirtschaftsbereiche, vor allem die Autoindustrie, die Chip-Branche oder die US-Bauwirtschaft legten schon 2007 einen veritablen Sinkflug hin. Sogar die ersten Bankzusammenbrüche oder Schieflagen hatten sich bereits ein Jahr vor Lehmann ereignet.
Wer also sehen wollte, konnte sehen, dass sich etwas zusammenbraute. Aber nicht nur Mainstream-Ökonomen glaubten den Gleichgewichtsmodellen und redeten die Lage schön. Der spätere US-Notenbank-Präsident Ben Bernanke, in jener Zeit noch Mitglied des Zentralbank-Rates, hatte 2004 sogar eine „great moderation“, eine Glättung des Konjunkturzyklus, nicht zuletzt infolge der „verbesserten Leistungsfähigkeit der makroökonomischen Politik“, ausgerufen.
Offensichtlich gibt es aber sogar unter Ökonomen lernfähige Leute. Der längste Aufschwung der Geschichte hat diesmal nicht zu einer Überzeugung geführt, Krisen gehörten ein für alle Mal der Vergangenheit an. Das gilt zumindest für jene Wirtschaftswissenschaftler, die sich weniger mit theoretischen Modellen, als mit der Wirklichkeit beschäftigen. Die Gemeinschaftsdiagnose erwartet zwar keine Krise, warnt aber immerhin vor „Abwärtsrisiken“. Die OECD-Chefökonomin Laurence Boom meint, es handele sich keineswegs nur um eine Konjunkturdelle, sondern um einen länger anhaltenden Abschwung. Und was die Wechselwirkung von Real- und Finanzwirtschaft anbelangt, so wird durchaus auf die mit dem Konjunkturaufschwung gewachsenen Risiken verwiesen. Der nach der vorigen Krise ins Leben gerufene Ausschuss für Finanzstabilität stellte in seinem jüngsten Bericht an den Deutschen Bundestag fest, „dass sich […] durch den Aufbau zyklischer Systemrisiken eine Gefährdungslage für die Finanzstabilität ergeben hat. Sollten diese zyklischen Systemrisiken eintreten, bestünde die Gefahr, dass die Banken daraus resultierende Verluste nur durch eine Einschränkung der Finanzierung der Realwirtschaft tragen könnten. In der Folge kann es zu negativen Rückkopplungen zwischen dem Finanzsystem und der Realwirtschaft kommen, da insbesondere Banken in ihrer Kreditvergabefunktion betroffen wären.“
Abgesehen von den vielen „Wenn und Aber“ erinnert diese Aussage an eine um die 150 Jahre alte Feststellung: „In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muss augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar. Und in der Tat handelt es sich nur um die Konvertibilität der Wechsel in Geld. Aber diese Wechsel repräsentieren der Mehrzahl nach wirkliche Käufe und Verkäufe, deren das gesellschaftliche Bedürfnis weit überschreitende Ausdehnung schließlich der ganzen Krisis zugrunde liegt. Daneben aber stellt auch eine ungeheure Masse dieser Wechsel bloße Schwindelgeschäfte vor, die jetzt ans Tageslicht kommen und platzen; ferner mit fremdem Kapital betriebene, aber verunglückte Spekulationen; endlich Warenkapitale, die entwertet oder gar unverkäuflich sind, oder Rückflüsse, die nie mehr einkommen können. Das ganze künstliche System gewaltsamer Ausdehnung des Reproduktionsprozesses kann natürlich nicht dadurch kuriert werden, dass nun etwa eine Bank, z. B. die Bank von England, in ihrem Papier allen Schwindlern das fehlende Kapital gibt und die sämtlichen entwerteten Waren zu ihren alten Nominalwerten kauft.“
Der Text stammt von Karl Marx und hat trotz aller Modifikationen des Kapitalismus offensichtlich kaum an Aktualität eingebüßt.
Also: Vor einer Krise oder mitten drin?
Manche Bereiche sind schon mittendrin, die Wirtschaft insgesamt steht eher kurz davor. Wie bei einem stark gedehnten Luftballon, den das geringste weitere Aufblasen zum plötzlichen Platzen bringt, fehlt wohl nur noch ein letzter Anlass.