von Klaus Joachim Herrmann
„Gelenkt wird die Expansion der Russen nach Deutschland von Marzahn aus“, weiß der Boulevard längst. Der Berliner Kurier titelt düster: „Russen-Supermarkt erobert den Osten. Der Discounter, der aus der Kälte kommt“. Selbst im lieblichen US-Familienbrüller Pets 2 hat das Grauen einen russischen Namen und der teuflische Zirkusbesitzer in der deutschen Synchronisation natürlich einen solchen Akzent. Schrecken ohne Ende, die Russen kommen. Im Osten hat man keine solche Angst. Vielmehr finden sie im einstigen Land der „Russenmagazine“ – verballhornte Übernahme des russischen Wortes „Magasin“ für die einstigen Geschäfte in Standorten der Sowjetarmee – Verständnis und manche Sympathie. Wer hier an den russischen Bären denkt, meint eher das Mischka-Konfekt. Ganz und gar keine „klebrigen Bonbons“, wie sie BILD angewidert in die Debatte spuckt. Das ostdeutsch-russische Verhältnis gibt darin Rätsel auf.
Es geht eben mal nicht um „unsere amerikanischen Freunde“ oder um „unsere französischen Freunde“ oder andere, an denen niemand als Selbstverständlichkeit im Westen Anstoß nähme, sondern „Die Freunde“. Das waren die gern so bezeichneten Vertreter der Befreier-, Sieger- und Führungsmacht Sowjetunion – von verächtlicher Zurückweisung über leise Ironie bis in manchen offiziellen Sprachgebrauch der DDR hinein. „Russland ist ihnen nahe“, erklärt der Politologe Stefan Meister besorgten Wahrern westdeutscher Leitkultur auf Deutscher Welle. Ostdeutsche Befindlichkeiten gründeten sich geografisch, aber auch auf historische Erfahrung, offenbart er Verständnis. Doch versäumt nicht nur er peinlich, solches dem anderen Teil der Republik zum gemeinsamen Nutzen zugänglich zu machen. Es folgt sogar die dreiste Warnung, dass gerade deren Nähe die Ostdeutschen für russische Propaganda nur noch anfälliger mache.
Größere Ferne hingegen macht offensichtlich für die eigene Propaganda anfälliger. Verwunderung und Empörung über ostdeutsche Alleingänge für einen Abbau der Sanktionen und ein besseres Verhältnis zu Russland mögen im Westen groß sein, Bereitschaft zu einem Umdenken ist es nicht. Vom Osten lernen? Hermann Wentker, Leiter der Berliner Forschungsabteilung des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, lässt sich in der Freien Presse so zitieren: „Im Westen herrscht eher das stereotype Fein[d]bild vor, sobald sich Moskau anders verhält, als man es in Berlin oder in Washington gern hätte.“ Putin als Gottseibeiuns – so soll es bleiben. Der Westen hat sich nach dem Zusammenbruch des Sozialismus als Sieger gefeiert. Wenn auch die Sowjetunion auf Russland reduziert ist, Kreml bleibt Kreml. Das Auswärtige Amt gibt auf seiner Webseite die Linie vor. Wenig diplomatisch wird dem großen Nachbarn zur Einführung alles um die Ohren gehauen: Krim, Ostukraine, Syrien, Nervengiftanschlag auf die Skripals, Cyber-Attacken, Verwendung von Chemiewaffen durch das Assad-Regime und die Verletzung des INF-Vertrages. Dann kommt noch der Katalog verhängter Strafen, bevor versichert wird, dass die Tür für einen Dialog mit Russland offen stehe. Der ist weit entfernt von einer Ost- und Entspannungspolitik Brandt- und Bahrschen Angedenkens.
Die unsichtbare innerdeutsche Grenze gebe es immer noch, schreibt Kerstin Decker im Tagesspiegel. Sie erklärt, „Osten und Westen denken verschieden“. Der Westen primär rechtsförmig, der Osten primär genealogisch. „Er fragt zuerst, wie eine Sache geworden ist. Die Dinge ausschließlich rechtsförmig zu betrachten, heißt abstrakt zu bleiben. Aber Interessen sind nie abstrakt, Sanktionen sind nie abstrakt. Nahezu jedes Jahr am 22. Juni wurden die Sanktionen gegen Russland verlängert, am Tag des Überfalls auf die Sowjetunion.“ Blicke in die Geschichte und in Zusammenhänge taugen nicht für das schwarz-weiße Bild. So wird größeres Verständnis für russische Positionen im Osten beobachtet. Der Hausherr des Kreml macht weniger Angst als sein Gegenüber im Weißen Haus. Da muss noch lange nichts an Politik und Vorgehen des Kreml beschönigt oder gar entschuldigt werden.
Es herrschen aber Zweifel an der Alleinschuld des Kreml an allen Übeln dieser Welt. Geschichte hat immer Vorgeschichte, manche Aktion ist Reaktion, Wirkungen haben Ursachen. Da waren der herbei gelogene Krieg der US-„Willigen“ gegen Irak und die Destabilisierung einer ganzen Region. Da wurde der blutige Umsturz in Kiew orchestriert, setzten die USA ihre Marionette Arsenij Jazenjuk als Premier ein, standen die just geschlossenen Verträge über die Krimstützpunkte der russischen Schwarzmeerflotte vor der schnellstmöglichen Kündigung. Die unter Präsident Petro Poroschenko offiziell sogar mehrfach erklärte Ignoranz gegenüber dem Minsker Abkommen blieb ungestraftes Privileg Kiews. In jedem Computer hockt angeblich ein russischer Hacker und macht hässliche E-Mails der Demokraten im Wahlkampf öffentlich. Derweil speichert und kontrolliert die NSA als größter US-Auslandsgeheimdienst den Mail-Verkehr der ganzen Welt. Ganz nebenbei legt der große transatlantische Verbündete noch das Ohr ans Handy der deutschen Kanzlerin. Die Russen können nicht Demokratie, derweil zwingt der britische Premier sein unbotmäßiges Parlament in den Urlaub. Solches zu bemerken weckt unweigerlich den bösen Verdacht, da treibe ein Russland- oder gar ein Putinversteher sein Unwesen.
Lieber wird Nostalgie als Deutung ostdeutschen Eigensinns bemüht. Doch das schwierige Russisch mit seinen sechs Fällen gibt für die Deutung der Nähe ebenso Rätsel auf wie die zumeist fern von Freundschaft mit den DDR-Bürgern in ihren Kasernen gehaltenen Sowjetsoldaten. Nicht jeder winkte ihnen, fuhren sie auf ihren LKW vorbei. Nicht jeder winkte zurück. Doch Ostdeutsche pflegen mehrheitlich eine „andere Sicht auf Russland“. Es gebe „statistische Abweichungen“, bestätigen die Soziologen. Mit 72 Prozent gegenüber 54 Prozent befürworten mehr Ost- als Westdeutsche bessere Beziehungen. Dies nicht nur in der Erkenntnis, dass Sanktionen nichts bringen, jedoch vornehmlich vom Osten gebüßt werden – wie weiland die allein von der DDR gezahlten Reparationen nach dem verlorenen deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Nun arbeiten sich die NATO und mit ihr auch wieder deutsche Soldaten an die russische Grenze vor.
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu weist im April seine damalige deutsche Amtskollegin mit dem bitteren Hinweis zurecht, Deutschland sollte seine Großväter fragen, was werde, wenn man mit Russland aus der Position der Stärke sprechen wolle, wie sie gefordert hatte. Wer allerdings in Frieden kommt, ist willkommen – bis in die Küche seiner Freunde. Nicht ein einziges Mal in rund zehn Moskauer Jahren wird mir für tückischen Überfall, millionenfache Mord- und Untaten des Landes meiner Herkunft Demut abgefordert, keine Rechenschaft, Erklärung, Entschuldigung – nicht als Deutschem aus der DDR, nicht als Bundesdeutschem. DDR-Herkunft erleichtert freilich bis heute das Miteinander: Die Ostdeutschen sind trotz aller Untergänge für Russen lange noch „Naschi“ – Unsere! Sie haben ihre Aussöhnung mit Russland und Russen gepflegt wie mit Frankreich und Franzosen die Westdeutschen.
Deutschland hat sich längst unter die West-Alliierten gemogelt, strebt als einstiger der „Feindstaaten“, deretwegen die UNO überhaupt erst entstand, in den Sicherheitsrat. Die Landung in der Normandie wird mit der deutschen Kanzlerin statt mit Russlands Präsidenten gefeiert. Nach dem heißen standen sich im Kalten Krieg die Deutschlands als Ost-und als West-Alliierte feindlich gegenüber. Doch die deutsche Teilung wird nur noch allein Walter Ulbricht als übelwollendem Spitzbart angelastet. Es wäre eine Umfrage wert, welche Deutsche inzwischen mit den Rosinenbombern der Berlin-Blockade von 1948/49 heute sogar einen gemeinsamen Sieg mit den Alliierten über die Russen im Zweiten Weltkrieg verbinden. Joachim Gauck schaffte es als Bundespräsident, Russland aus dem Weg zu gehen und bei einem Gedenken an das Weltkriegsende in Polen die Sowjetunion nicht einmal zu erwähnen. Herkunft muss nicht zwangsläufig für Geschichtsbewusstsein und Anstand stehen.
Nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis wurden die DDR befreit, die Bundesrepublik besiegt. Beide jedoch schlugen sich erfolgreich auf die Seite der Sieger – als treueste Verbündete der Sowjetunion oder der USA. Doch Freundschaft mit Supermächten taugt nicht als Staatsdoktrin, die haben ihre eigene Weltsicht. Generalsekretär Erich Honecker gab „unverbrüchlicher Freundschaft“ Verfassungsrang und wurde trotzdem todkrank nach seinem Sturz von Moskau gesundgeschrieben und seinen Gegnern ausgeliefert. Die verbliebene Führungsmacht USA attackiert herrisch die Bundesrepublik wegen der Gasleitung Nord Stream 2 und drängt ihr gefracktes Gas auf. Kalter Wirtschaftskrieg und großer Knüppel. US-Botschafter Richard Grenell weist an, fordert, droht und wird von Kritikern als „Hochkommissar einer Besatzungsmacht“ klassifiziert. Der selbstherrlich „regierende“ Sowjet-Botschafter Pjotr Abrassimow wurde immerhin einst aus der DDR zurück beordert. „Wir brauchen keinen Gouverneur“, meinte sein Chef im Kreml Juri Andropow. Diese Einsicht steht im Weißen Haus noch aus. Selbst transatlantisch ließe sich also vom Osten noch etwas lernen.
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