von Andreas Gängel
Der Krieg ist zu Ende und die Kritik beginnt. Am 9. Januar 1919 erschien in der Weltbühne unter der Überschrift „Militaria“ Tucholskys Artikel „Offizier und Mann“, in dem er mit dem deutschen Militär abrechnet. Es war der erste von sieben Artikeln seiner „Militaria-Serie“. Gerade aus der Armee entlassen, wollte er „aus der Lüge heraus“, dass man auf das Militär stolz sein könne.
Rückblende: Am 10. April 1915 hatte Dr. jur. Tucholsky den Gestellungsbefehl erhalten. Mit 27 Jahren, 166 cm „groß“ und von rundlicher Gestalt zog der Journalist und Schriftsteller beim „Schipperbataillon“ als Armierungssoldat ein. Alsbald wurde er Schreiber beim Kompaniestab, die Schreibmaschine war im vertrauter als eine Schippe. Auch wenn er den Krieg überwiegend in der Schreibstube verbrachte – „ich habe mich dreieinhalb Jahre im Krieg gedrückt, wo ich nur konnte“ – , so war er dem Kriegsgeschehen durch Fronteinsätze mit Stellungskämpfen durchaus nah. Doch: „Aberst ich schieße lieber nicht. Nachher erschrickt so ein Russe und wird krank … Nein, nein.“ Später, 1926, wird er in seinem Artikel „Wo waren Sie im Kriege, Herr –?“ bedauern, dass er nicht „den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich. So tat ich, was ziemlich allgemein getan wurde: ich wandte viele Mittel an, um nicht erschossen zu werden und um nicht zu schießen.“
Schließlich wurde er zur Zeitung abkommandiert und schrieb ab dem 26. November 1916 für die Feldzeitung Der Flieger. Auch wenn ihm das Schreiben näher als das Schießen war, räumte er alsbald ein: „[…] ich arbeite nur noch mit größtem Widerwillen daran“. Mit wie viel Widerwillen er für Kriegsanleihen warb, ist unbekannt. Bereut hat er dies im Nachhinein, zumal ihm das „Verdienstkreuz für Kriegshilfe“ verliehen wurde. Vielleicht war dies auch ein Grund dafür, dass er die „Militaria“-Serie unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel, einem „essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare“ (Tucholsky), Kritiker der staatlichen Institutionen, verfasste.
Tucholsky, der es bis zum Feldpolizeikommissar brachte, widmete sich in seinem ersten Artikel dem Verhältnis von „Offizier und Mann“. Er empfand es als schlecht. „Der Offizier lebte in einer ganz andern Welt und sah den Mann nicht nur von oben herab, sondern außerdienstlich am liebsten gar nicht an. Die Lebenshaltung beider war vollkommen verschieden …“ Sein Urteil über den Offiziersstand fällt entsprechend aus: überbezahlt, arrogant, sittlich korrupt und unreif hat er „schlecht und recht seinen Dienst getan, und auch den teilweise mäßig genug“.
Seine kritischen Schilderungen des Kriegsalltags setzt er in dem Artikel „Verpflegung“ fort. Tucholsky beginnt mit dem Satz: „Wenn der deutsche Soldat das bekommen hätte, was ihm zustand, so hätte er ausgiebig zu essen gehabt. Die Portionssätze waren so berechnet, dass jeder gut damit hätte auskommen können. Der deutsche Soldat bekam aber nur einen Teil seiner Verpflegung – der Rest wurde unterschlagen.“ Wiederum wirft er den Offizieren niederes Verhalten vor. Sie hätten das „Vorgesetztenverhältnis nicht nur über Menschen“, sondern auch über „Würste und Butterfässer“ ausgedehnt. Am Ende dieses Beitrages kündigt er schon die nächsten „Enthüllungen“ an: „Und die Diebstähle andrer Güter? Und die kleinen Mädchen? Und die großen Requisitionen? Davon das nächste Mal.“
Jetzt macht er auch vor dem einfachen Soldaten nicht halt, wenngleich er weiterhin vor allem den Offizieren die „deutsche Korruption“ anlastet. „Der Krieg ist eine üble Angelegenheit, und es wird nicht leicht fallen, dem Soldaten klar zu machen, Mord sei erlaubt, ja Pflicht, und das viel geringere Delikt des Diebstahls sei Verbrechen.“ Eine starke Aussage. Im Jahre 1931 wird er noch radikaler äußern: „Soldaten sind Mörder.“ Drei Wörter mit ungeheurer Sprengkraft, die bis in die Gegenwart wirken und spalten.
Tucholsky vergisst auch die Frauen nicht, die ins Heer kamen als es an „Menschenmaterial“ mangelte. Man schätzt, dass ab dem Frühjahr 1917 bis zu 50.000 weibliche Hilfskräfte in die Armee aufgenommen wurden. In dem Artikel „Von kleinen Mädchen“ will er den „Aphroditen die Ehre geben“. Doch ihm geht es auch hier um unehrenhaftes Verhalten der Offiziere: „Der Einfluss des schlechten Offiziersgeistes auf die deutschen Helferinnen war, um ein beliebtes Leutnantswort zu gebrauchen, ‚verheerend‘. Ein großer Teil der jungen Damen ist in Grund und Boden verdorben nach Hause gekommen. Nicht etwa, weil sie geliebt haben. Sondern weil sie gesehen haben, dass der Mann ihnen – ohne viel Arbeit – alles bot … Der deutsche Offizier, und mit ihm die Chargen, haben es meisterhaft verstanden, Huren wie Damen und Damen wie Huren zu behandeln.“ Nach Tucholskys Beobachtungen erhoben die Offiziere Besitzanspruch auf Frauen. Er zitiert einen Rittmeister mit den Worten: „Sie gehören zu uns Offizieren!“ Gemeint war damit wohl eher: „Sie gehören uns Offizieren.“
Nachdem Tucholsky die Missstände beim Militär angeprangert hatte, fragt er in „Vaterländischer Unterricht“, wieso die Öffentlichkeit davon nichts wusste. „Verrohung“ und „Verrottung“ waren kein Thema vaterländischer Propaganda. Auch wenn die Euphorie zu Kriegsbeginn inzwischen verflogen war, auf „Unser Militär!“ war trotz der Niederlage der Stolz nicht völlig abhandengekommen. Und so wundert es kaum, wenn Tucholsky sich unbeirrbare „deutsche Spießer, nein, den deutschen Bürger“ zur Brust nimmt. Wie könne man ein Volk, das den Krieg als „kleinen Betriebsunfall“ begreift, deuten? Die militaristische Schande Deutschlands sei nur möglich gewesen, „weil sie die tiefsten und schlechtesten Instinkte des Volkes befriedigt hat“.
Und dann kommt es, wie es kommen musste: Ehemalige Offiziere intervenieren. Tucholsky wird von der deutschnationalen Presse beschimpft und der Offiziersbund will wegen seiner „Militaria“-Serie Strafantrag stellen. Daraufhin bittet ihn der Herausgeber der Weltbühne, Siegfried Jacobsohn, er möge doch wenigstens irgendwo einen Satz einfügen, dass eine „große Anzahl von Offizieren sich vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges untadelig geführt“ habe. Diesem Wunsch kommt Tucholsky in seinem Artikel „Zur Erinnerung an den ersten August 1914“ nach. Er wolle nicht den einzelnen Offizier angreifen, sondern den „Geist des deutschen Offizierkorps“. Tucholsky beendet diesen Beitrag mit den Worten: „Wir bekämpfen nicht den einzelnen Offizier. Wir bekämpfen sein Ideal und seine Welt und bitten alle Gleichgesinnten, an ihrer Zerstörung mitzuhelfen. Nur sie kann uns eine neue, reinere Heimat geben.“
Mit der Militaria-Serie endet Tucholskys Kritik am Militär nicht. Weiterhin setzte er sich nicht nur in der Weltbühne mit ihm auseinander, warnt, greift an und wird verurteilt. Am 12. Dezember1922 schreibt er in der Bremer Volkszeitung: „Vergesst nicht, dass wir unsern zerschlagenen Militarismus nie wieder haben wollen! Nieder mit der Wehrpflicht! Nie wieder Krieg!“
Auch wenn es Tucholsky während seiner Militärzeit keineswegs nur schlecht erging, erlebte er unangenehme Situationen und Konflikte. Seine Kritik am Militär ist also weniger eine Abrechnung mit seinem persönlichen Schicksal denn mit dem Militär an sich. Schweigen kam für Tucholsky nicht in Frage. Denn sein Blick zurück galt der Sorge um die Zukunft. Der Mut, der ihm zur Kriegsdienstverweigerung fehlte, den brachte er nun bei der Verurteilung von Militär und Krieg auf.
Der Autor ist Rechtswissenschaftler und Publizist, er lebt in Berlin.
Die „Militaria-Serie“ ist nachlesbar: https://das-blaettchen.de/17-jahrgang-2014/08-2014.html.
Schlagwörter: Andreas Gängel, Die Weltbühne, Kurt Tucholsky, Militär