22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal schwere Lasten der Geschichte – Bernd Böhlichs Film über den DDR-Anfang, Nino Haratschwilos sowjetgeorgisches Familienepos im Theater …

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Endlich zurück. Drei Frauen, glühende Kommunistinnen, kamen 1938 aus Hitler-Deutschland als Emigrantinnen in die UdSSR. Nach zwei Jahren euphorischer Mitarbeit am Aufbau einer grundsätzlich neuen, besseren Welt, ließ Stalin sie – wegen Spionage unschuldig angeklagt – nach Sibirien deportieren. Nach 12 Jahren Haft in einem mörderischen Arbeitslager endlich der Transport zurück nach Hause. Ankunft 1952 in Fürstenberg, später Stalin-, dann Eisenhüttenstadt.
Die örtliche SED-Führung sorgt umgehend für Wohnung, Kleidung, Geld, Arbeit, für materielle Privilegien. Doch als erstes legt sie ein Dokument zur Unterschrift vor: Bei Strafe kein Wort über das, was war. Für Nachfragen galt die Formel: „Arbeit in verschiedenen Gebieten der Sowjetunion.“
Das Tabu der verbrecherischen Seiten des Stalinismus währte – ungeachtet der Chruschtschow-Rede nach Stalins Tod 1953 – bis zum Ende der DDR. Es war einer ihrer Geburtsfehler. Was nun dieses Schweigegelübde, was dieser himmelschreiendes Unrecht fortschreibende Befehl zum Verheimlichen der Wahrheit und zum Lügen mit diesen drei Frauen in den Folgezeiten anrichtet, wie sie – familiär und politisch – in schwere, zerstörerische Konflikte und Krisen stürzen, davon erzählt herzergreifend der sinnigerweise im Titel die DDR-Nationalhymne zitierende Film „Und der Zukunft zugewandt“ von Bernd Böhlich.
Immerzu klammern sich die von Angst, Zweifel und notorischer Fortschrittsgläubigkeit Zerrissenen, um seelisch wie moralisch zu überleben, an die Zukunft, an die bessere, an die „gerechte große Sache“ alternativ zum Klassenfeind-Kapitalismus, wo die alten Nazis neue Karrieren starten. Sonst wäre doch „alles umsonst“ gewesen; das in Strömen vergossene „Kommunistenblut“. Und sie versuchen so, der wachsenden Skepsis gegenüber dem „ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ samt seinem Aufbau-Enthusiasmus und seinem Partei-Terror halbwegs Herr zu werden. Die eine bringt es auf den Punkt: „Das ganze halbe Land erscheint mir wie eine Kulisse. Ist das ungerecht oder ist das die Wahrheit?“
Bernd Böhlich, 1957 im sächsischen Löbau geboren, zeigt in seinem neuen, auf authentischen Biografien beruhenden Film mit psychologisch genau, zugleich beeindruckend komplex gezeichneten Figuren der Kommunisten Tragik und darüber hinaus – wie nebenbei – Facetten der deutschen Tragödie überhaupt. Freilich gelingt das vor allem durch ein Ensemble sehr wissender Schauspieler wie Alexandra Maria Lara, Barbara Schnitzler, Karoline Eichhorn, Robert Stadlober oder Stefan Kurt.
Auch wenn wir Wolfgang Leonhards Enthüllungsbuch von 1955 „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ kennen, bleibt es doch gerade auch jetzt notwendig, so wie Bernd Böhlich durch die ergreifenden Schilderung konkreter Schicksale, die für tausende stehen, an die entsetzliche Last unserer Geschichte zu erinnern. Und der schwierigen Wahrheit zu dienen; wie auch der Gerechtigkeit – den Opfern ein waches Gedenken.

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Was für eine Wucht. Was für ein mutiger, weil schwieriger, weil Ensemble und Publikum über vier Stunden hinweg enorm fordernder Einstieg des Potsdamer Hans-Otto-Theaters in seine neue Saison. Aber so soll es doch sein: Starkes Theater mit einem kompakt politischen, ja epochalen Thema samt den tragischen Verstrickungen unterschiedlichster Menschen, die ihr Glück begehren und dann doch kaputt gehen – sowohl an zwanghaft äußeren Umständen wie eigenen Schwächen, am Egoismus und Opportunismus. ‑ Das große Gesellschaftliche und das große Persönliche in der Zusammenschau, das erzählt Nino Haratschwilo (jetzt in Hamburg lebend) in ihrem georgischen Familienepos „Das achte Leben (Für Brilka)“. Es erschien vor fünf Jahren und steht in seiner Genauigkeit, seiner Poesie und Ereignisdichte wohl einzigartig da im gegenwärtig literarischen Betrieb. Auf Anhieb bekam es zahlreiche Preise; jetzt im Buchhandel in bereits achter Auflage.
Aus unseren Dramatikerwerkstätten ist derzeit nichts vergleichbar Starkes und Vielschichtiges zu haben. Also stürzen die Theaterleute sich auf diesen autobiographisch gefärbten 1275-Seiten-Roman, der über sechs Generationen hinweg den Bogen spannt vom Georgien der Zarenzeit über den Aufstieg und Fall der Sowjetunion unter Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Gorbatschow bis hin ins Europa nach dem Mauerfall. Ein blutiges Jahrhundert wird da besichtigt: voll von Krieg und Menschenmassenvernichtung, von Dogmatik und Gewalt, euphorischem Aufbruch und tödlichem Sturz, von Liebe, Treue, Betrug und Verrat, Hoffnung, Verzweiflung und Untergang.
Die Klammer dieser faszinierenden Generationengeschichte ist Niza, die Urenkelin eines georgischen Schokoladenfabrikanten aus Tiflis. Diese modern-westliche junge Frau von heute erzählt für ihre Nichte Brilka die von Katastrophen durchwirkte Geschichte ihrer Familie.
Nach Inszenierungen andernorts griff sich – Bravo! ‑ nun am Hans-Otto-Theater die seit Jahrzehnten Schauspiel und Oper inszenierende Regisseurin Konstanze Lauterbach das Opus magnum und kelterte unter Mitarbeit von Bettina Jantzen aus der enormen Fülle der ins historische Breitwandpanorama eingebetteten privaten Ereignisse ein lebenspralles, dabei pointiertes szenisches Panorama.
Fürs große, freilich nicht durchweg großartige Ensemble eine Riesenherausforderung: Immer auf Anhieb im fliegenden Wechsel der Szenen, Situationen, Zeiten präsent, präzise und zugleich locker zu sein ist Schwerstarbeit für die immer noch heterogen agierende Truppe. Noch dazu die Bewältigung des kühnen Mixes gegensätzlicher Spielweisen – psychologische Einfühlung, expressive, auch komische Überzeichnung, satirisches Agitprop, nüchterner Report, episches Erzählen, komödiantische Verspieltheit bis hin zu witzigem Slapstick, zu Tanz- und Gesangseinlagen, fein kontrapunktiert mit reichlich Musik von Klassik bis Pop.
Die bewundernswert einfallsreiche Lauterbach zieht alle Register von großer Oper über Agitprop bis hin zum sublimen Kammerspiel. Dabei entstehen suggestive Bilder; kommt es zu monumentalen Aufgipfelungen, entsetzlichen Abstürzen, grausamer Stille. Dass dazwischen immer wieder Bilder und Einfälle trödeln, die weniger zupackend sind, das wäre mit distanzierterem Regieblick im Verlauf der Repertoirepraxis zu tilgen. Macht es doch die schier ungeheure Menge sich wiederholender Katastrophen jedweder Art schwierig, trotz vieler Regiekünste die Spannung unentwegt hoch zu halten. Letztlich wird jedoch die von Weisheit wie Einfühlsamkeit getragene, herzbewegende Aufführung beherrscht von der erschütternden Raserei geschundener Menschen nach ihrem Glück und Seelenheil.
Alles in allem ist die durch sowjetisch-georgische Schreckenszeiten von 1900 bis Mitte 1990 mäandernde Erzähl-Chronik ein großer, freilich langer Abend, auf den man sich einzulassen hat. Und der uns entlässt mit einem bitteren Menetekel: „Die Vergangenheit ist nicht tot“, heißt es am Schluss. Sie warte nur darauf, wiederzukommen.