von Max Klein, Liverpool
Es gibt vielleicht drei Möglichkeiten, auf die gegenwärtigen britischen Ereignisse zu reagieren. Man kann sie ignorieren. Das ist die häufigste Reaktion, die mir in Liverpool begegnet. Das ist Johnsons Chance, die Brexit-Sache zu Ende zu bringen, so oder so – nur wie, egal wie? Man kann sie wie ein Schauspiel verfolgen, als unendliches Theater, hatte doch zum Beispiel der Seitenwechsel von Philipp Lee von der Tory- zur liberalen Bank erheblichen Schauwert, vollzogen in dem Moment, da der Premierminister im Unterhaus gerade wortreich beschrieb, was er auf dem G7-Gipfel eben nicht erreicht hat. Man kann auch versuchen vorherzusagen, wohin das führt, mehr als drei Jahre nach dem Referendum, dazu muss man bereit sein sich zu irren. Es ist Wendezeit, das britische Zwei-Parteien-System ist am Ende, die Rufe nach einer endlich geschriebenen Verfassung werden laut und, wie der Nestor des Unterhauses, der eben aus der Toryfraktion entlassene Ken Clarke sagt, man könne nicht vorhersagen, was jeder Tag bringen würde. Aber wohin wendet sich dieses Land?
Man kann diese Entwicklung nicht wirklich ignorieren, die Krise ist fundamental, betrifft sie doch eines der großen Länder der Welt. Die Krise ist keine Naturkatastrophe. Es ist offenbar, dass Johnson, sein Berater Dominic Cummings, im Hintergrund Steve Bannon und deren Sponsoren versuchen, die britische Zivilgesellschaft zu zerstören, um der kapitalistischen „Moderne“ zum Durchbruch zu verhelfen: Ende der Gewaltenteilung, Weg frei für die Lüge, Profite Offshore, Vernichtung der aufgeklärten Presse.
Es ist der Versuch, die „alternative“ Rechte gesellschaftsfähig zu machen, und der Brexit ist nur das willkommene, nationalistische Thema. Schon lange gibt es keine wirkliche Auseinandersetzung mit der Frage, warum man denn nun die EU verlassen müsse, komme was wolle. Während das Thema Brexit heißt, ist man eigentlich schon darüber hinaus. Das mag der tiefere Sinn des Widerstands sein, den 21 Heroen geleistet haben, als sie über den Parlamentsgraben und ihre eigene professionelle Karriere hinweg, in erstaunlicher Zusammenarbeit mit der Opposition aller Couleur, Johnson ein Gesetz zum Verbot des Ausstiegs ohne Vertrag aufgezwungen haben, dem er nun „tot in einem Graben“ entkommen will.
Man könnte die Komik genießen: den im Parlament schlafenden Rees-Moog, John Bercows Rufe nach „Order“, den Mann in Yorkshire, der dem Premier lächelnd sagt „please leave my town“, die Queen, die jeden Unsinn, wie die fünfwöchige Parlamentspause in Zeiten maximaler Unklarheit, mittragen muss, eingedenk der letzten Einmischung eines Königs in die Politik, die diesen, Charles, im Jahre 1649 den Kopf kostete.
Es ist nicht nur komisch sondern spannend. Da wird die Regierung am 26.8. gefragt, ob sie juristischen Rat eingeholt hätte zur längeren Auflösung des Parlaments, was sie verneint, um am 28.8. genau das zu verkünden, eine der ungezählten Lügen von Johnson. Eine Woche später hat die Tory-Partei 21 ihrer bekanntesten Mitglieder entlassen, so auch den Enkel von Winston Churchill, der erklärte, was seinen Großvater vom jetzigen Premier unterschied. Churchill wäre durch lebenslange Erfahrungen geprägt worden, Johnson hätte nur Märchen über die EU verbreitet, schon als Journalist in Brüssel. Churchill, so Enkel Nicholas Soames, hätte wohl kaum befürwortet, „die außergewöhnliche Beziehung, die wir mit dieser großartigen Europäischen Union haben“ aufzugeben.
Angespornt durch die Suspendierung des Parlaments und das Misstrauen in Johnson, gewiss im Urteil, dass ein Ausbruch ohne Vertrag („no deal“) eine Katastrophe wäre, brachte die vereinte Opposition einen Gesetzentwurf ein, genannt „Benn bill“ nach Hillary Benn, der das vortrug, der die Regierung im Detail verpflichtet, in keinem Fall ohne Vertrag am 31.10.2019 die EU zu verlassen. Spannend war die Frage, ob der Gesetzentwurf eine Mehrheit im Unterhaus bekäme, was eindrucksvoll gelang. Man diskutiert nun die Maßnahmen für den Fall, dass der Premier das daraus folgende Gesetz ignoriert und ist entsetzt über die Notwendigkeit, sich auf diesen Fall vorbereiten zu müssen. Noch glaubt man an die Kraft des Gesetzes.
Spannend wird auch sein, ob Jeremy Corbyn auf den sanften Brexit und den Anspruch auf das Amt des Premierministers zu verzichten bereit ist, beides gäbe den Weg frei für den Ausstieg aus dem Exit und eine nationale Regierung, die die überkommenen Parteigrenzen überwinden und das Land aus der Sackgasse befreien könnte. Labour hält das für ausgeschlossen, aber auch Labour ist nicht Herr der Lage und sollte endlich über das Korsett der Parteienlogik hinausdenken. In einer kommenden Wahl werden „Remainer“ für die Liberalen stimmen und „Leaver“ für die Tories oder Farages Partei „Brexit“. Labour wird nur dann nicht untergehen, wenn es sich klar für den Verbleib in der EU ausspricht, was der alte Jeremy bisher einfach nicht fertigbringt.
Irrwitzig klingt die Ankündigung Johnsons, er wolle durch seine Überzeugungskraft auf dem EU Gipfeltreffen am 17.10. einen neuen Vertrag erwirken, nachdem sein Unterhändler Frost sich in Brüssel gerade lächerlich gemacht hat. „Rubbish“, Unsinn, erzähle Johnson beständig, so Ken Clarke, Tory bis zu seiner Vertreibung, Minister unter Heath, Thatcher, Major und Cameron. Es ist undenkbar, eigentlich, dass Boris Johnson noch lange im Amt ist, es sei denn, die ganze Gesellschaft verliert ihre Struktur, was gar nicht komisch wäre. Dagegen protestieren Tausende im Land.
Bleibt die Frage, was werden könnte. Das Benn-Gesetz gegen einen planlosen Ausbruch aus der Europäischen Union schränkt die Möglichkeiten ein, logisch gesehen kann man dann nur noch mit einem Abkommen austreten oder gar nicht. Johnson hat ohne Bedenken, oder ohne nachzudenken, erklärt, er würde dem nicht folgen. Er weiß eventuell immer noch nicht, welch erfahrene Politiker – wie die ehemaligen Justizminister Gauke, Generalstaatsanwalt Dominique Grieve oder Schatzmeister Hammond – er provoziert hat, die ihn mit anderen vor Gericht bringen würden, leistete er einem Gesetz keine Folge.
Während ich diesen Artikel schreibe, hat Amber Rudd das Kabinett und die Tory-Fraktion verlassen. Es gäbe die Möglichkeit, dass eine andere Mehrheit nach einer Wahl das Benn-Gesetz kassierte, jedoch müsste man dann glaubwürdig nachweisen, dass der Austritt ohne Abkommen mit der EU im Interesse Großbritanniens ist. Wie wäre das zu machen, wenn immerhin 21 Tory-Abgeordnete ihre Laufbahn in den Wind geschlagen haben, weil das eben nicht wahr ist? Die EU hat beständig erklärt, dass das mit der Regierung May verhandelte Abkommen alternativlos sei. Dominique Raab, Außenminister und ehemaliger Brexit-Minister unter May, behauptet, es liefen Geheimverhandlungen mit der EU – von der diese vielleicht nichts weiß. Die demagogische Beeinflussung des Landes verläuft geordnet, jemand leitet das, und man denkt an Cummings, und nicht wenige Karrieristen machen mit.
Es mag sein, dass eine spätere britische Regierung versuchen würde, von einigen von Mays roten Linien abzurücken, das jedoch wäre eine Bewegung hin zu „remain“. Dieses Abkommen erwies sich mehrfach als ungeliebt, die Brexiteers wollten weniger Macht für die EU, kamen jedoch an der irischen Realität nicht vorbei, die vor 50 Jahren blutig begann. Labour wollte einen sanften Brexit, nur, wer mag wirklich glauben, dass im Jahre 2020 neue Verhandlungen der 27 mit Großbritannien aufgenommen werden würden. Am 13. März 2019 hatte Theresa May bei der erneuten Vorlage ihres Entwurfs erklärt, dass bei erneuter Ablehnung der Brexit verloren gehen würde… Das war sehr wahrscheinlich eher eine Vorhersage als eine einfache Mahnung.
Ein weiteres, großes Thema ist die Frage nach Alternativen im Handel. Dazu bot die erste Septemberwoche interessanten Anschauungsunterricht, als der amerikanische Vizepräsident Pence Boris Johnson besuchte. Man las, dass das Team des amerikanischen Handelsbeauftragten Lighthizer eine Reihe von fundamentalen Kriterien für ein Abkommen mit Großbritannien aufgestellt habe, so für den Marktzugang von Agrarprodukten oder den Verzicht der Briten auf die Anpassung ihrer Währung. Es ist ein Witz, dass die Anpassung des Pfundkurses in der EU möglich ist, die USA jedoch genau das gern untersagten.
Kein britischer Premier, auch wenn er sich so radikal wie Johnson geben mag, kann das britische staatliche Gesundheitswesen, NHS, für amerikanische Konzerne öffnen und keiner kann Lebensmittel unterhalb der europäischen und britischen Gesundheitsstandards zulassen. Es ist daher anzunehmen, dass es keinesfalls schnell, wenn überhaupt, zu einem umfassenden Handelsabkommen käme, an dem Großbritannien hoch- die USA jedoch allenfalls primär politisch interessiert wären. Obama hatte wohl Recht, das große Britannien müsste sich hinten und nicht vorn anstellen, mit anderen Worten, wer gliche eigentlich aus, was mit Europa verloren ginge, „fuck business“ (Johnson) wird die Schwierigkeiten nicht beheben.
Die schottischen Bestrebungen nach Selbständigkeit sind nur ohne Brexit zu bändigen, ebenso wie der erneut bestärkte Wille, die irische Insel zu einem Land zu vereinen. So steht also auch die Einheit des Königreichs auf dem Spiel. Langsam setzt sich wohl die Erkenntnis durch, dass mit dem Brexit tatsächlich nichts zu gewinnen wäre, aber viel verloren ginge. Man möchte annehmen, dass ein zweites, dann sachkundigeres Referendum jenes von 2016 deutlich kassierte, solange nicht die ganze Gesellschaft der „Zwillingskrankheit, Populismus gepaart mit englischem (!) Nationalismus“ (Phillip Lee in seinem Abschiedsbrief an Johnson, 4.9.) verfällt.
Vielleicht wird man aus all den genannten Gründen in einigen Jahren den Brexit loben als ein Signal zur Erneuerung der britischen Gesellschaft, wie auch hoffentlich der EU, und froh sein, ihn vermieden zu haben. Man wird an den Ursachen der Unzufriedenheit arbeiten müssen, die den Resonanzboden des Brexit-Theaters darstellen, man wird vielleicht bescheidener werden in seinen imperialen Ansprüchen, vielleicht.
Das Zweiparteiensystem wird wohl durch ein Mehrparteiensystem abgelöst werden. Ich denke, dass man den Vorschlägen, eine Verfassung auszuarbeiten, wohl eher nicht folgen wird. Einmal, weil man dann endlich wieder regieren und arbeiten will, statt erneut Grundsatzdebatten zu verfolgen, und zum anderen, weil die Vertreibung des Hochstaplers Boris aus der Nr. 10, Downing Street, dazu führen sollte, dass der britische Common Sense wieder regiert. Das ist eine optimistische Aussicht auf die sich vollziehende Tragödie, die Wahrnehmung einer Chance zur Erneuerung, Vollbremsung und Umkehr vor dem Abgrund, in den viele, auch die Millionen Europäer, hinreichend geschaut haben.
Die Alternative, die Verbrüderung von Farage und Johnson, die erneute Irreführung eines Volkes, Boris gar im Tower, man mag sie sich nicht vorstellen. Es wird dauern, wohl mehr als ein Jahr, bis der Brexit Geschichte ist, darf man doch auch nicht übersehen, dass die heute im Widerstand gegen Johnson geeinte Opposition keinesfalls einheitliche Vorstellungen hat zur Zukunft, was ein zweites Referendum („deal or remain“, nicht „do or die“) wahrscheinlich erscheinen lässt. Trump ist dann hoffentlich schon weg, selbst wenn man vergeblich nach 21 republikanischen Helden im Senat sucht …
Schlagwörter: Boris Johnson, Brexit, EU, Großbritannien, Max Klein, USA