von Ulrich Busch
Am 7. Oktober wäre die DDR 70 Jahre alt geworden, am 3. Oktober aber ist ihr 29. Todestag. Beide Daten bieten Anlass für Feierlichkeiten: Der 7. Oktober, weil damit an eine hoffnungsvolle, aber gescheiterte Alternative erinnert wird, der 3. Oktober, weil mit der Selbstauflösung der DDR und deren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes die „nationale Einheit“ hergestellt worden ist. Aber ist sie das wirklich? Angesichts der fortbestehenden Diskrepanzen in den Lebensverhältnissen, der beachtlichen Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen West und Ost sowie der Differenzen in Politik, Wirtschaft und Kultur kommen da Zweifel auf. Vielleicht wurde mit der deutschen Einheit lediglich eine bestehende regionale Ungleichheit neu definiert und ein innerhalb eines Staates, innerhalb einer Währungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnung, existierendes Gefälle auf Dauer festgeschrieben. – Man weiß es nicht. Die Zukunft wird es zeigen.
Wovon man aber bis heute auch immer noch keinen klaren Begriff hat, das ist die DDR. Was war sie eigentlich? Eine erzwungene Notgeburt, nachdem im Westen die Bundesrepublik aus der Taufe gehoben worden war, J. W. Stalins ungewolltes und ungeliebtes Kind? Oder die endliche Realisierung des von deutschen Kommunisten lange gehegten und sorgfältig vorbereiteten Wunschtraumes? Eine zweite deutsche Diktatur oder eine demokratische Republik (zugegebenermaßen mit einigen Schönheitsfehlern)? Westdeutsche Historiker neigen dazu, die DDR zu einer Fußnote der deutschen Geschichte zu erklären. Etwa so wie die Mainzer Republik von 1793 oder das Königreich Westfalen unter Jérȏme Bonaparte zwischen 1807 und 1813. Aber dafür war das Territorium der DDR zu groß und ihre Bevölkerung zu zahlreich. Auch währte ihre Existenz mit fast einundvierzig Jahren für eine Fußnote zu lange. Es scheint so, als käme man jetzt nicht mehr umhin, die DDR als zweiten deutschen Staat neben der Bundesrepublik Deutschland zu akzeptieren. Wenigstens posthum sollte dies möglich sein, denn zu Lebzeiten tat man sich damit schwer, bis 1972, vor Abschluss des Grundlagenvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten ohnehin, danach zum Teil. Derartige Defizite aber wirken bekanntlich nach: Noch heute sprechen Westdeutsche mitunter von der Zone oder von Mitteldeutschland, wenn sie die DDR meinen und beharren auf Abstufungen und diffamierenden Unterscheidungen, wenn es um die Vergangenheit in der DDR geht. Zum Beispiel bei der Anerkennung von akademischen Abschlüssen, beruflicher Qualifikation, der Lebensleistung überhaupt. Aber, zurück zur Fragestellung: Was war die DDR?
Man kann einen Staat über die Aufzählung seiner Eigenschaften definieren. Danach war die DDR ein Arbeiter- und Bauernstaat, eine Republik, ein Industrieland, ein Sozialstaat, ein Kultur- und Leseland und anderes mehr. Aber jede dieser Charakteristika ruft sofort Kritik hervor, welche obiges relativiert bis korrigiert. Versuchen wir es also umgekehrt: Was war die DDR nicht? Ein Agrarland, eine Marktwirtschaft, eine Militärdiktatur, eine vollkommene Demokratie, eine Bananenrepublik, ein Wohlfahrtsstaat, ein Armenhaus. Hieraus folgt das gleiche wie oben: nichts gilt absolut, weder im Positiven noch im Negativen.
Aber, wie steht es mit anderen Charakteristika. Von außen wurde die DDR als „preußisch“ wahrgenommen, als „blühendste Gesellschaft im Ostblock“ (Charles S. Maier), als „moderne Industriegesellschaft“ (Konrad Jarausch). Andere charakterisieren sie als „langweilig“, als „Totenhaus“ (Sigrid Damm), als Typus einer „sozialbürokratischen Gegenmoderne“ (Michael Brie/Ewald Böhlke). Nimmt man noch Termini wie „Unrechtsstaat“, „kommunistische Parteidiktatur“ und „Mangelwirtschaft“, welche gänzlich zu Recht umstritten sind, hinzu, so ist die Konfusion perfekt. Die DDR wäre dann alles, was man in ihr sehen will: Für die einen findet in ihrem Bild der Kalte Krieg seine Fortsetzung; sie schrecken dabei vor keiner Verfälschung, Diffamierung und Persiflage zurück. Für die anderen aber gilt dies nicht minder, bloß dass sie ihr Idealbild von der DDR in einer Verteidigungsposition hochhalten. Historisch betrachtet stehen sie auf verlorenem Posten, denn die DDR gibt es nicht mehr. Das interessiert sie aber nicht, denn ihnen geht es nicht um die Realität, sondern allein um die Idee. Und die DDR war nie größer, schöner und eindrucksvoller als in der Idee.
Nun ist die Frage, was die DDR letztlich gewesen ist, immer noch unbeantwortet geblieben. Es wird auch nicht möglich sein, sie im Rahmen dieses Feuilletons schlüssig und umfassend zu beantworten. Das einzige, was hier möglich ist, ist die Formulierung eines Ausgangspunktes dafür. Und der besteht in der Anerkennung der DDR als einer gewesenen, aber gescheiterten Alternative. Sie war eine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus, zur Markt- und Geldwirtschaft, zur bürgerlichen Gesellschaft, zum bürgerlichen Rechtsstaat, zur Konsum- und Wegwerfgesellschaft, kurz: zur Bundesrepublik Deutschland. Als solche ist sie historisch gescheitert, eher elendig als grandios, wobei die Gründe dafür interner wie externer Natur waren. Die inneren Ursachen aber, die substanziellen Konstruktionsfehler, waren für das Scheitern die entscheidenden, sowohl in politischer, in ökonomischer wie in sozialer Hinsicht. Nicht die äußeren und auch nicht die personellen Fehlbesetzungen, denn diese waren zufällig und temporär. Das Ende der DDR aber war ein klarer Fall von Systemversagen.
Die DDR war insofern zugleich eine traurige Alternative, denn ihr frühes Ende war in ihrer inneren Verfasstheit und Struktur angelegt. Nicht wenige Sympathisanten und Kritiker hatten dies geahnt und gespürt: 1953, 1965, 1968, 1976, 1989. Es lag so etwas wie eine unglückliche Vorbestimmung über dem Land, ein Fatum, dem es nicht entgehen konnte, auch nicht durch noch so radikale Reformen – politisch, sozial, ökonomisch, kulturell. Und trotzdem gilt: Die DDR war eine Alternative zur bestehenden Gesellschaft, zur herrschenden Ordnung, zum Mainstream der Geschichte!
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