22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Der Osten, wie er wirklich war … die Dreißigste … Klappe!

von Erhard Weinholz

Die DDR wollte immer spitze sein, und in mindestens einer Hinsicht hat sie es auch erreicht: Sie ist umstrittener als jedes andere Phänomen deutscher Geschichte, allerdings erst seit 1990, denn um Herrschaft über den Osten geht es erst seitdem. Die jüngsten Ost-Wahlergebnisse der AfD, auf die ich hier nicht eingehen werde, haben diesen Streit noch angeheizt. Ich will nur drei Probleme ansprechen und kann auch kaum mehr als Vorüberlegungen bieten.
Die Eigenarten des Systems in der DDR lassen sich wahrscheinlich schwerer verstehen und auf den Begriff bringen als zum Beispiel die des zweiten Kaiserreichs oder der Naziherrschaft. Definitionsangebote gibt es genug: menschenverachtende Parteiherrschaft, erster deutscher Friedensstaat, Nominalsozialismus, totalitäre Fürsorgediktatur, durchherrschte Gesellschaft … Übereinkunft ist nicht in Sicht. Kann ein Einzelbegriff dieser Gesellschaft überhaupt hinreichend gerecht werden? Vielleicht wäre es sinnvoll, sich mit Benennungen in der Art von Josephinismus oder Wilhelminismus zu begnügen? So wie man den Erdkörper als Geoid bezeichnet, könnte man das System in der DDR zum Beispiel einfach DDR-System nennen … Was darunter zu verstehen ist, kann dann jeder selber entscheiden – die Unterschiede in den politischen Absichten beim Blick auf dieses Land sind ja enorm. Nicht wenige aus der Linkspartei und ihrem Umfeld kämpfen noch immer für seine Ehrenrettung, mal mit der Methode Märchenwald – die DDR, das Land ohne Arbeitslose, ohne Mietenwucher, das Land, das dem Volke gehörte und allen Geborgenheit bot –, mal mit der Methode Abwehrschlacht: Gerade jetzt, da der Klassenfeind angreift wie nie zuvor, in einer solchen Lage können wir uns doch nicht mit der Kritik der DDR befassen! Damit würden wir uns ja vor seinen Karren spannen lassen: Hat nicht ein gewisser Kinkel einst die Delegitimierung der DDR verlangt? Dass das Volk hier dieses System längst delegitimiert hat, davon will man nichts wissen.
Auf der anderen Seite diejenigen, die den Osten so finster, hässlich, brutal, verlogen und so weiter wie nur möglich erscheinen lassen möchten, so dass bei seinem Anblick jedermann drei Kreuze schlägt und Nie wieder Sozialismus stöhnt. Der Stalinismus in seinen mehr oder minder terroristischen Varianten kommt ihnen daher besonders zupass; die damaligen Verhältnisse helfen ihnen unter anderem DDR und Nazireich, wie inzwischen üblich, als zwei Diktaturen umstandslos zu bündeln. Aber letztlich sind sie dafür auf Stalin nicht angewiesen, Diktatur ist für sie gleich Diktatur. Allenfalls räumen sie ein, die DDR sei „nicht ganz so schlimm“ gewesen. Dabei haben sie fast immer nur den Staat im Blick: Die SED, so erfährt man in der neuen Dauerausstellung im Leipziger Zeitgeschichtlichen Forum, hat dies versprochen, das getan, jenes verboten und so weiter. Doch gehören zu einer Gesellschaft nicht immer zwei? Gerade im Verhältnis von Volk und Führung zeigt sich, wie mir scheint, ein grundlegender Unterschied der beiden politischen Systeme: Führerkult und Gemeinschaftsdenken nach dem Motto „Du bist nichts, dein … ist alles“ waren in der DDR selbst anfangs nur mäßig ausgeprägt und wurden, gesamtgesellschaftlich betrachtet, im Laufe der Jahre weitgehend belanglos. Und zwar nicht nur, weil die DDR in vieler Hinsicht im Vergleich zur Bundesrepublik nicht hinreichend zur Identifikation einlud, sondern auch, weil sich die Bürgerinnen und Bürger mit wachsendem Selbstbewusstsein – ich sage es mal etwas vereinfacht – zu schade waren, die da oben immer nur zu bejubeln und sich ins Kollektiv zu zwängen.
Ein zweites, daran anschließendes Problem, das vor allem Linke beschäftigt: Marx und Engels hatten sich als Demokraten verstanden, Lenin verband zumindest mit den Räte-Ideen einen demokratischen Ansatz. Trotzdem fand sich – wieso nur? – unter dem Banner des Marxismus, das heißt Kommunismus eine demokratie- und freiheitsfeindlich orientierte Klientel zusammen (nicht nur, aber auch), und wenn überhaupt, war sie es, die – weshalb eigentlich? – an die Macht kam und dort auch blieb. Organisiert hatte sie sich in einer Partei, der Lenin zufolge a priori die Führungsrolle in der Gesellschaft zustand, und zwar, das ging über sein Konzept noch hinaus, im administrativen Sinne. Mit Demokratie war das keinesfalls zu vereinbaren. War Lenin also der Schurke, Marx das von den sozialistischen Machthabern immer nur missbrauchte Opfer? Doch auch der von Marx und Engels verfochtene Wissenschaftlichkeitsanspruch des ML ist bestens zur Absicherung undemokratischer Herrschaft geeignet; er wurde ja zu einer der Säulen von Lenins Parteitheorie. Es entlastet aber alle drei, dass sich unser Tun aus Ideen, wie wichtig sie auch für die Ausdeutung von Erfahrungen sein mögen, nie hinreichend erklären lässt.
An die Macht gekommen sind auch Verfechter eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus – so 1918/19 in Bayern und in Bremen. An der Macht gehalten haben sich aber letztlich nur jene, die sich dem undemokratischen Zentralismus verschrieben hatten und ihn wiederum der Gesellschaft verordnet haben. Das erklärt vielleicht die Anziehungskraft dieser Orientierung. Ihre längerfristigen Negativfolgen sind bekannt. Doch Versuche, systemintern neue Strukturen zu schaffen, brachten wenig, bestenfalls warfen Leninisten den Stalinismus über Bord. Für radikalere Revolutionen von oben fehlten den Erneuerern meist das Interesse, die Entschlossenheit und der Schulterschluss mit den Massen, oder sie scheiterten am Widerstand konservativer Kräfte und der Sowjetunion. Grundsätzlich war dieser Sozialismus vermutlich durchaus reformierbar, aber gegen seine Machtmittel kam man nur auf revolutionäre Weise an. Damit rief man aber ganz andere Geister auf den Plan. Hier zeigte sich dann, was letztlich ausschlaggebend war: wie im Hintergrund, im sozialistischen Normalfalle unsichtbar, die Gesellschaft und insbesondere ihr stärkster Teil, die Arbeiter, ihre Interessen definiert hatten. Dabei hat zumindest zeitweise auch der Sozialismus seinen Platz gehabt, aber nicht als ihr wahres, ihr Klasseninteresse; diese Begriffe des ML waren eher Herrschaftsinstrument, dienten der Unterdrückung von der Linie abweichender Ansichten. Wie sich die Gesellschaftsvorstellungen, die Ziele der hiesigen Arbeiterschaft im Laufe der Jahrzehnte verändert haben, wie ihr vorwiegend tradeunionistisches Bewusstsein sich zu Freiheit und Demokratie verhielt, darüber könnte ich nur mutmaßen. Die Sozialdemokratie (ich schweife einmal ab) versucht immer wieder, die von Ebert, Noske & Co. 1918/19 betriebene konterrevolutionäre Politik durch drohende russische Verhältnisse zu rechtfertigen; meines Erachtens zu Unrecht. Und auch im Herbst 1989 ging es einem beträchtlichen Teil der Arbeiterschaft nicht allein um Konsum und Reisefreiheit. Was sonst gewollt wurde, trat aber bald in den Hintergrund.
Zufrieden waren die Herrschenden nicht mit dem, was sie in der DDR zustande gebracht hatten: Sie nannten es daher zuletzt real existierender Sozialismus. Das hieß: Mehr ist eben derzeit nicht drin; es ist immerhin besser als gar nichts. Viele linke Kritiker der Verhältnisse hier sprechen hingegen, und damit komme ich zum dritten Problem, vom Nominalsozialismus (man fragt sich dann, was es tatsächlich war). Doch es handelte sich ja wohl um eine der Ordnungen, die aus einer mit zwei Sozialisten, Marx und Engels nämlich, eng verbundenen Bewegung heraus entstanden sind und im Grunde alle gleichen Charakters waren. Man kann also vermuten, dass dieser Charakter dem Wesen der Bewegung entsprungen und folglich so wie diese sozialistischer Natur war. Es war nur leider ein Sozialismus, der sich allmählich so ziemlich allen Interessen der Gesellschaft entfremdet hatte. Doch wozu eigentlich der – letztlich ergebnislos gebliebene – Streit, ob das System hier sozialistisch war oder nicht, wozu die Rede vom Nominalsozialismus? Um Angriffe des Gegners abzuwehren? Das wird uns dabei nicht helfen, im Gegenteil, es heißt dann „Lebenslüge der Linken“. Oder etwa, um vom Volk zu hören: „War doch kein Sozialismus? Na dufte, können wir ja noch mal loslegen!“ Kaum zu erwarten. Und auch beim Entwurf einer Gesellschaft, die aus der jetzigen hervorgehen könnte und zugleich unseren Interessen entspricht, hängt nichts davon ab, ob das hier Sozialismus war oder nicht. Mir scheint: Der erwähnte Streit war gesellschaftlich nutzlos, wenn nicht gar scholastisch, und eben deshalb konnte er auch keine Ergebnisse erbringen.