22. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2019

„Pole vom Wirbel bis zum Zeh“

von Klaus Hammer

Im 200. Jubiläumsjahr Fontanes dürfte es angebracht sein, über das Verhältnis des Autors zu Polen zu sprechen. Mir geht es hier um die Gestalt des polnischen Grafen Bninski in Fontanes Erstlingsroman „Vor dem Sturm“. In dem 1878 erschienenen „Vielheitsroman“ sollen die in der Mark alt eingesessenen Vitzewitze auf Hohen-Vietz und die in Berlin residierenden Ladalinskis über die Verheiratung der Kinder miteinander verknüpft werden. Die Ladalinskis sind polnisch. Ladalinski war nach der dritten Teilung Polens in preußische Dienste gewechselt. Durch die Heirat seines Sohnes Tubal mit Renate von Vitzewitz und seiner Tochter Kathinka mit Lewin von Vitzewitz hofft er, den anverwandelten Habitus eines gesinnungsfesten Preußen durch die Verheiratung der Kinder zu beglaubigen.
Als Kontrastfigur fungiert Graf Bninski, ein „Pole von Wirbel bis zur Zeh“. Dieser, der am Ende Kathinka aus ihrer Familie herausreißt, auf seine Güter in Polen entführt und zur Frau nimmt, äußert offen oder verdeckt sein Unverständnis über die von Ladalinski getroffenen Entscheidungen. Auf die Nachricht von der eigenmächtigen Kapitulation Yorks, der das preußische Kontingent in der napoleonischen Russlandarmee Napoleons befehligt, reagiert er enttäuscht: „Und das nennen sie Treue hierlandes!“ Bninski ergeht sich auf einer Gesellschaft im Hause Ladalinski in Sarkasmen, ironisiert das, was er die „Eigentümlichkeiten deutscher Nation“ nennt: „Immer ein feierliches in Eid- und Pflichtnehmen, dazu dann ein entsprechendes Symbol“. Den Entschluss des alten Ladalinski, die Fäden zu seiner polnischen Heimat zu kappen, gar zum Protestantismus zu konvertieren, überhaupt sich jenem Preußen anheimzugeben, das Polen „um dreißig Silberlinge verschachert“ habe, ist ihm „ein Rätsel und ein Widerspruch“. Hier herrsche nichts als „der Vorteil, der Dünkel, die großen Worte“.
Fontanes Buch bezeichnet sich ausdrücklich als „Roman aus dem Winter 1812 auf 13“. Der Autor wollte einen Zeitroman in Form eines polyphonen Gesellschaftsromans liefern, mit all seinen Breiten und Hindernissen, Dialogen und Gesprächen, historischen Exkursen, mit seinen unzähligen Porträts, Anekdoten und Episoden. Die aktuell-politische Absicht Fontanes wird sichtbar in der rigorosen Preußenkritik des polnischen Grafen Bninski, die einen Höhepunkt des Romans darstellt: „Angenähtes Wesen, Schein und List, und dabei die tief eingewurzelte Vorstellung, etwas Besonderes zu sein. Und worauf hin? Weil sie jene Rauf- und Raublust haben, die immer bei der Armut ist. Nie ist es satt, dieses Volk; ohne Schliff, ohne Form, ohne alles, was wohltut oder gefällt, hat es nur ein Verlangen: immer mehr! Und wenn es sich endlich übernommen hat, so stellt es das Übriggebliebene beiseite, und wehe dem, der daran rührt. Seeräubervolk, das seine Züge zu Lande macht! Aber immer mit Tedeum, um Gott oder Glaubens- und höchster Güter willen. Denn an Fahneninschriften hat es diesem Lande nie gefehlt.“
Es findet sich ganz Ähnliches in den Anschauungen des englandfreundlichen preußischen Frondeurs Bülow in „Schach von Wuthenow“, der etwa äußern kann, Preußen sei nicht ein Land mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Land. Das wird am so genannten „Schach-Fall“ exemplifiziert: Der „schöne“, eitle Schach von Wuthenow, „einer der besten“ des königlichen Garderegiments Gensdarmes, steht vor der Entscheidung: Soll er die blatternarbige frühere Schönheit Victoire de Carayon, die er verführt hat, heiraten – zumal ihn ein Befehl des Königs dazu zwingt – und so den Spott seiner Kameraden auf sich nehmen, den er fürchtet? Oder soll er seinem Gefühl folgen, sich den Verpflichtungen gegenüber Victoire entziehen und damit der Ehre seines Regiments entgegen handeln? Unmittelbar nach der Hochzeit, so beschließt er, wird er sich das Leben nehmen. Schach bleibt fixiert auf ein veräußerlichtes gesellschaftliches Wertsystem, und für Bülow ist dieser „Schach-Fall“ „durchaus Zeiterscheinung, aber, wohlverstanden, mit lokaler Begrenzung, ein in seinen Ursachen ganz abnormer Fall, der sich unter dieser Art und Weise nur in seiner Königlichen Majestät von Preußen Haupt- und Residenzstadt, oder, wenn über diese hinaus, immer nur in den Reihen unsrer nachgeborenen fridericianischen Armee zutragen konnte. Einer Armee, die statt der Ehre nur noch den Dünkel, und statt der Seele nur noch ein Uhrwerk hat“. Fontane hat in einem erst 1993 veröffentlichten Brief in seinem letzten Lebensjahr geschrieben: „Wenn jemals eine wurmstichige Frucht reif zum Abfallen war, so war es das, über sein schwaches natürliches Maß unnatürlich hinausgewachsene Preußen […] Ich bin für Alte-Fritz-Verherrlichung. Aber damit hört es auch auf. Alles andre – großes Fragezeichen!“ In allen seinen Romanen hat Fontane bestimmte Stellvertreter-Figuren – das müssen nicht immer Hauptfiguren sein – seine eigenen Überzeugungen zum Ausdruck bringen lassen. Das ist Bülow in „Schach von Wuthenow“, das ist Bninski in „Vor dem Sturm“.
Es geht Fontane in „Vor dem Sturm“ um Identität, und zwar um individuelle wie kollektive. Die zwei Komponenten gehören zueinander, die eine ist ohne die andere nicht zu denken. Identität ist Treue zu sich selbst und zur jeweiligen Nation, zum Vaterland, in unserem Fall zu Preußen oder Polen. Beides gleichzeitig haben zu wollen, ist – so die Botschaft des Romans – zum Scheitern verurteilt. „Eine Treue kann die andere ausschließen“, gibt Tubal dem Grafen Bninski zu bedenken. Und das Motiv der Treue zieht sich durch den ganzen Roman hindurch.
Ja, es ist das eigentliche Thema des Romans, die Treue dem König gegenüber oder dem Land, das Verhältnis von König und Volk, die Grundfrage de Monarchie. Es ist Berndt von Vitzewitz, der sie stellt: „Ich liebe den König […] und ich habe ihm Treue geschworen, aber ich will um der beschworenen Treue willen die natürliche Treue nicht brechen. Und diese gehört der Scholle, auf der ich geboren bin. Der König ist um des Landes willen da. Trennt er sich von ihm, […] so löst er sich von seinem Schwur und entbindet mich des meinen.“ Damit wird die Legitimität der Monarchie in Zweifel gezogen, und zwar diesmal nicht von einem Außenseiter, sondern von einem Repräsentanten der Adelskaste und der Monarchie. Aus welcher politischen Situation heraus handeln denn die Verschwörer um Berndt von Vitzewitz? Preußen ist ein erzwungener Verbündeter Napoleons im Kampf gegen Russland, und wenn sie Landsturm-Bataillone gegen Napoleon aufstellen, würden sie gleichzeitig dessen Verbündetem, dem absolutistischen Staat Preußen, in den Rücken fallen. Es sei denn, der preußische König würde zu ihnen stehen, ja sich für sie erklären. Friedrich Wilhelm III. aber, der „Cunctator“, der Zögernde, wie er genannt wird, schweigt. Er äußert sich nicht, und der gesetzte Termin für den Angriff auf das geschlagene französische Heer rückt immer näher. Letztlich, als weder der König noch die Heeresreformer (also Gneisenau, Scharnhorst und der Freiherr von Stein) sich dazu entschließen können, schlagen die Aufständischen mit Berndt von Vitzewitz allein los, doch erleiden sie eine klägliche Niederlage.
„Das Buch ist der Ausdruck einer bestimmten Welt- und Lebensanschauung. Es tritt ein für Religion, Sitte, Vaterland, aber es ist voll Hass gegen die blaue Kornblume und gegen ‚Mit Gott für König und Vaterland’, will sagen: gegen die Phrasenhaftigkeit und Karikatur jener Dreiheit“, so schreibt Fontane 1878 an seinen Verleger Wilhelm Hertz über den gerade erschienenen „Vor dem Sturm“. Die „blaue Kornblume“, übrigens die Lieblingsblume Napoleons, war das Symbol der konservativen und königstreuen Kreise, und „Mit Gott für König und Vaterland“ war die Devise des vom preußischen König 1813 mit dessen Aufruf „An mein Volk“ gestifteten Landwehrkreuzes und zugleich das Motto auf dem Titel der konservativen Kreuzzeitung gemeint, von der sich Fontane gerade verabschiedet hatte. Ausdrücklich weist der Autor darauf hin, dass sich sein Roman von dem „landesüblichen Dutzendprodukt“ abhebt, mit dem die antinapoleonischen Kriege des Jahres 1813 neben der Schlacht von Sedan von 1870 zu den beiden vorherrschenden Gründungsmythen des Kaiserreiches gemacht wurden.
Dem polnischen Grafen Bninski aber hat Fontane alle seine Demütigungen, Kränkungen, Verwerfungen in den Mund gelegt, die er durch die preußische Bürokratie, die Scheinheiligkeit in den Ämtern und die militaristische Brutalität Preußens als Journalist, Kriegsberichterstatter und Staatsbürger erfahren hat – und wie sie sich in seiner Korrespondenz in Zusammenhang mit seinen Kündigungen bei der Kreuzzeitung, dem Kultusministerium und der Akademie der Künste. die der Fertigstellung von „Vor dem Sturm“ vorangegangen waren, auch real finden lassen: „Denn alles, was hier in Blüte steht, ist Rubrik und Formelwesen, ist Zahl und Schablone …“