von Reinhard Wengierek
Am 28. September anno 1897 traf er ein in Wien. Und blieb dort, samt Frau und Töchtern, fast zwei Jahre. Da war Mark Twain längst ein berühmter Mann durch „Tom Sawyer“ und „Huckleberry Finn“. Und begeisterte alle Welt als philosophisch witziger Weltenbummler, als kritisch sarkastischer Beobachter des Menschenbetriebs im Allgemeinen wie Besonderen.
Es muss dem geistreichen Amerikaner also ganz gut gefallen haben in der k.u.k. Metropole; damals mit zwei Millionen Einwohnern nach London, Paris, New York immerhin die viertgrößte Stadt der Welt knapp vor Berlin und Tokio – und ein (multi-)kultureller Brennpunkt obendrein. Wien hatte gerade erst sein mittelalterliches Flair abgestreift und sich bei boomender Wirtschaft mit der Einrichtung einer zeitgemäßen Infrastruktur – Nahverkehr, Wasserversorgung – sowie pompösen Großbauten weltmännisch aufgedonnert: die Ringstraßen-Bebauung als vielspuriger Grand-Boulevard mit Parlament, Rathaus, Uni, Börse, Banken, Theatern, Museen, Ministerien, Großbürger-Palästen, Reitweg und reichem Baumbestand. Stararchitekten wie Gottfried Semper, Theophil Hansen oder Heinrich Ferstel durften sich repräsentativ historistisch austoben. Ihre Kollegen Otto Wagner und Alfred Loos installierten die Moderne, Gustav Klimt und Co. den Stil der Secession – ihre Antwort auf den verstorbenen, fürstlich prunkvollen Maler Hans Makart. Sigmund Freud erforschte die Geheimnisse der Psyche, Schnitzler und Hofmannsthal betrieben literarisch subtile Welt- und Menschenerkundung und Gustav Mahler komponierte sich in den Weltruhm. – Eine Stadt im fundamentalen glanzvollen Um- und Aufbruch.
Doch Twain war nicht nur fasziniert von Fin de siècle und Neuerertum. Als politisch denkender Mensch interessierte er sich dezidiert fürs Gesellschaftliche, für die Politik im Zentrum des Vielvölkerstaates mit seinen – wer hellen Sinns war – bereits sichtbaren Rissen. Auch wenn die, rein optisch, etwa am zentralen öffentlichen Diskurs-Ort, überblendet wurden: nämlich von Hansens monumental strahlendem Parlamentsgebäude im Stil einer griechischen Tempelanlage mit Pallas Athene auf knapp sechs Meter hoher Säule vorm Entré. In der einen Hand den Speer als Waffe (gegen wen?), in der anderen die Siegesgöttin Nike. Baubeginn war 1874, ein Jahrzehnt später kaiserliche (!) Einweihung.
Twain, der sich mit seinen 62 Jahren die Mühe machte, die aktuell politischen Diskussionen direkt zu verfolgen, setzte sich am 28. und 29. Oktober 1897 auf die Pressetribüne des Reichsratssitzungssaals. Und beobachtete mit zunehmendem Entsetzen eine sage und schreibe dreißig Stunden dauernde Redeschlacht, die zur sinnlosen, selbstzerstörerischen Schlammschlacht ausartete zwischen fanatisch vertretenen nationalistisch-ideologischen Positionen, die sich in ihrer Aggressivität gegenseitig überbieten und auf unglaubliche Beleidigung und Erniedrigung, ja auf Auslöschung des jeweiligen Gegners zielen. – Ach, goldene Pallas Athene …
Diesen exemplarischen, geradezu unheimlich auf Zustände unserer heutigen Welt weisenden Tiefpunkt des Parlamentarismus lässt Twain in zwei scharfsinnigen, auch von Komik nicht freien Reportagen lebendig werden. Sie sind gleichsam als Parabel zu verstehen von der bedenkenlosen und doch planmäßigen Zerstörung politischen Zusammenlebens – die slawischen Völker im sich radikal zuspitzenden Kampf um mehr Rechte gegen die deutschsprachige Elite.
Die virtuosen Texte wurden beizeiten schon in London veröffentlicht. Vor zwei Jahren gab sie die im Palais Epstein befindliche Wiener Parlamentsbibliothek unter dem Titel „Mark Twain: Reportagen aus dem Reichsrat“ neu heraus in einem fein illustrierten Band. 25 Euro, ergänzt mit Begleittexten heutiger Autoren und – der Clou! – mit zwei CDs: „Hermann Beil liest Mark Twain – Bewegte Zeiten in Österreich“. Beil kennt als gebürtiger Wiener und Mitglied der Burgtheaterdirektion unter Claus Peymann, dessen langjähriger Dramaturg er war, sein Österreich wie es war und wie es ist nur zu gut. Und sein Berlin aber auch, wo er jetzt lebt und wo er Stütze und graue Eminenz war (mit schlohweißem Haarschopf) von Peymanns Direktorat des Berliner Ensembles.
Nebenbei bemerkt, besagtes Epstein-Palais – ein Kunstdenkmal: edle Neorenaissance, kostbare Ausstattung – ließ der jüdische Bankier einst wie das benachbarte Parlament von Theophil Hansen als Stadtresidenz erbauen. In der NS-Zeit war es Quartier des Reichsstatthalters, in der Besatzungszeit Sitz der sowjetischen Kommandantur – was für ein Geschichtsdenkmal.
In einem Kommentar zum Buch fasst Hermann Beil Twains parlamentarisches Grauen zusammen: „Es gab keinen Versuch, keine Bemühung, aus Verantwortungsbewusstsein Gemeinsamkeit zu suchen und zu finden. Es gab nur Feindseligkeit und Hass, Missachtung und Pöbelei, Trickserei und Manipulation, Geschrei und Prügelei … Twain erzählt uns das Geschehen wie ein böses, finsteres Märchen vom Anfang des Endes des Untergangs der Donaumonarchie … Es könnte ein erhellendes Lehrstück sein für unsere heutigen Volksvertreter; nämlich dass politische Zerstörung nicht Schicksal, sondern Menschenwerk ist. Dass Machterhalt und Machtgewinn um jeden Preis bitter bezahlt werden.“
Das bibliophil gestaltete Druckwerk aus dem Residenzverlag Salzburg-Wien erschien 2017, Nachauflage 2018. Auf dem Umschlag ein köstliches Foto von 1898: Twain mit feuriger Haartolle und buschigem Schnauzer sitzt der Wiener Bildhauerin Ries Modell. Dass uns der 173-Seiten-Band nebst den beiden CDs erst jetzt in die Hände fiel, tut nichts zur Sache, erhöht höchstens dessen Brisanz – nicht zuletzt noch durch Twains beiläufig hingeworfene Vergleiche mit dem damaligen angelsächsischen Parlamentarismus.
Schlagwörter: Donaumonarchie, Mark Twain, Parlamentarismus, Reinhard Wengierek, Verantwortungsbewusstsein, Wien