22. Jahrgang | Nummer 17 | 19. August 2019

Gedächtnisschwund

von Waldemar Landsberger

Im britischen The Evening Standard war kürzlich zu lesen: „In unserer Zeit erscheint die Mentalität einer ungeduldigen direkten Demokratie besonders attraktiv: Es ist die Ära von Deliveroo, Uber und Amazon, nicht von parlamentarischem Prozedere. Eine Zeit, in der Wünsche mit Apps sofort und nicht durch lästige politische Prozesse erfüllt werden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, wie gefährlich die Taten von politischen Führern sind, die behaupten, die Stimme ‚des Volkes‘ authentischer wiederzugeben als parlamentarische Versammlungen. Doch wir leben auch in einem Zeitalter des kulturellen Gedächtnisschwunds, in dem derartige schmerzhafte Lehren in Vergessenheit geraten.“ Das schrieb Matthew D’Ancona, ein renommierter Journalist und Buchautor, Präsident des konservativen Think Tanks „Bright Blue“, der als „Modernisierungsflügel“ und als „scharfsinniger intellektueller Gen-Pool“ der Tory-Partei gilt.
D’Anconas Feststellung ist eine präzise Beschreibung des Zeitgeistes, nicht nur in Großbritannien, sondern in weiten Teilen des reichen nordatlantischen Westens. In Deutschland fordern nicht nur die AfD, sondern auch die Linkspartei und immer wieder Teile der SPD und der Grünen, zuweilen gar der CSU mehr Volksabstimmungen. Sie brächten „mehr Demokratie“.
Das betrifft nicht nur gesellschaftspolitische Fragen, sondern auch die innerparteilichen Zustände. In der SPD, statt ihren gesellschaftspolitischen Irrweg seit Gerhard Schröders neoliberaler Agenda 2010-Politik mit Niedriglohnsektor und Verarmung weiter Teile der Bevölkerung in Frage zu stellen, wird geraunt, die Große Koalition sei schuld an der Schwäche der Partei – 20,2 Millionen Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 1998, 16,2 Millionen 2005 und 9,5 Millionen 2017 – und nicht die programmatische Auszehrung. Es wurde über Sigmar Gabriels autoritären Führungsstil gemault und über die dümmliche Vordergründigkeit öffentlicher Bekundungen der Andrea Nahles.
Nach deren Rücktritt hieß es, die Partei müsse aufhören, sich mit sich selbst zu befassen, sondern in der Gesellschaft sichtbar wirken. Vizekanzler Olaf Scholz sowie Sozialminister Hubertus Heil und Familienministerin Franziska Giffey mühen sich redlich, durch ordentliche, aber oft geräuschlose Regierungsarbeit sozialdemokratisches Profil zu zeigen. In der Öffentlichkeit bestimmen jedoch GroKo-Ablehner das Bild. Der geschäftsführende Troika-Vorsitz meinte, nun müsse eine Doppelspitze her. Tatsächlich meldeten sich bisher nur Figuren aus der zweiten und dritten Reihe: als Doppelpack eine ehemalige Familienministerin aus Nordrhein-Westfalen namens Christina Kampmann mit dem derzeitigen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, die Tochter des langjährigen Bundestagsabgeordneten und Energiepolitikers Hermann Scheer, Nina Scheer, mit dem einigermaßen bekannten Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sowie die Oberbürgermeisterin von Flensburg, Simone Lange, im Tandem mit dem Bautzener Oberbürgermeister Alexander Ahrens, aus Westberlin stammender Sinologe, der erst 2017 in die Partei eintrat. Inzwischen meldeten sich aber noch zwei alte Bekannte: Gesine Schwan und Ralf Stegner.
Die Liste wird zum 1. September geschlossen. Dann sollen die Parteimitglieder online oder per Brief über ihre Lieblingskandidaten abstimmen, die Favoriten werden dann vom Vorstand einem Parteitag vorgeschlagen, der allerdings erst zur Weihnachtszeit tagt. Seit dem Rücktritt Nahles ist dann mehr als ein halbes Jahr vergangen. Die SPD als Partei befasst sich weiter mit sich selbst – angesichts dieses Personaltableaus mit sinkendem öffentlichen Interesse.
Hier wird ausgeblendet – siehe der „kulturelle Gedächtnisschwund“, dass die Sozialdemokraten 1993 bereits eine grandiose Urwahl des Vorsitzenden vollbracht hatten: es siegte der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Rudolf Scharping, gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Bereits 1995 hatte allerdings ein SPD-Parteitag dieses Ergebnis kassiert, Oskar Lafontaine wurde nach einer fulminanten Parteitagsrede neuer Parteivorsitzender. Was zeigt, Urwahl bringt nicht mehr Schwarmintelligenz als „einfache“ Parteitagsbeschlüsse.
Die Linkspartei will sich nun auch an dieser politischen Amnesie beteiligen, natürlich unter dem Vorwand von „mehr Demokratie“. Die Initiatoren „von der Basis“ verkünden, eine Urabstimmung solle „zu einer personellen Lösung führen, bei der eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von vornherein gewährleistet ist, die einen Ruhepol für die Partei bildet und einen positiven Auftritt nach außen pflegt“. Damit meinen sie aber die doppelte Doppelspitze – nur die Parteispitze kann jedoch per Urwahl bestimmt werden, der Fraktionsvorsitz wird von der Fraktion bestimmt. Der Spitzenstreit fand aber nicht zwischen den beiden Parteivorsitzenden oder den Fraktionsvorsitzenden statt, sondern wurde vor allem zwischen der Parteivorsitzenden Katja Kipping und der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht ausgetragen. Was in etlichen Medien als „Zickenstreit“ verhandelt wurde. Am Ende wurde dies als ideologischer Grabenkampf inszeniert. Kipping unterstellte Wagenknecht „rechte“ Positionen, während die nur die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen wollte.
Am Ende erklärte Wagenknecht ihren Rückzug sowohl aus der Bewegung „Aufstehen“ als auch vom Vorsitz in der Bundestagsfraktion. Sofort sank die Zustimmung zur Linkspartei bei der „Sonntagsfrage“ von 11,5 oder 12 Prozent auf 9 oder 8 Prozent, was bedeutet, es gibt bei der Linkspartei einen Wagenknecht-Effekt von über zwei Prozent. Es gab immer nur drei Personen, bei denen bundesweit Wahlplakate gehängt werden konnten mit: „…kommt“, das waren „Gregor kommt“, „Oskar kommt“ und „Sahra kommt“. Alle anderen, auch die Parteivorsitzenden, mussten erklärt werden. Das ist nicht per Urwahl zu ändern. Und den Sahra-Effekt gibt es nicht ohne Sahra.
Das eigentliche Problem in beiden roten Parteien liegt woanders. Der Soziologe Wolfgang Streek verwies kürzlich in einem Interview zur Schwäche der Linken auf den Widerstreit zwischen der kulturellen und der ökonomischen Konfliktachse in der Gesellschaft. Entstanden sei das Problem aus der Ratlosigkeit der „Dritte Weg“-Sozialdemokraten – die Streek nach wie vor als Linke adressiert – in den 1990er Jahren darüber, was sie nach ihrer globalistischen Wende den Wählern noch anbieten könnten – der Schutz vor Marktkräften und internationalem Wettbewerb war es nicht mehr. „Die Antwort war die Propagierung liberal-libertärer, sogenannter post-materialistischer Wertorientierungen, die als im Trend liegend wahrgenommen wurden.“ Das führte zu einer Spaltung der linken Basis: „Diejenigen ‚neuen Libertären‘, die man bis dahin noch ökonomisch hatte einbinden können, sahen nun keinen Grund mehr, nicht gleich zu den aufsteigenden Grünen überzugehen; traditionelle Linkswähler dagegen fanden sich einer Umerziehungsrhetorik ausgesetzt, die ihnen positive Bekenntnisse zu Lebensweisen abverlangte, die ihnen unverständlich, unheimlich oder gar unmoralisch erscheinen. Viele von ihnen wollten deshalb mit Politik nichts mehr zu tun haben. Andere wechselten zu rechtskonservativen oder, in Ermangelung derselben, rechten und rechtsradikalen Parteien.“
Hier verwies Streek auf die deutsche Alltagskultur, die von ideologischen Eiferern gern ausgeblendet wird: „Ich glaube, dass die meisten Deutschen in kulturell-moralischen Fragen weitgehend zu einer Haltung des ‚Leben und leben lassen‘ neigen, solange andere ihnen gegenüber dieselbe Haltung einnehmen. Ja zu: Jeder soll machen, was er oder sie will, solange sie mich damit in Ruhe lassen; nein zur Durchsetzung einer ‚celebrate diversity‘ – Kultur von oben nach unten, von der antitraditionalistischen Einheitsmeinung der liberalen Medienelite bis in die letzten Winkel des Alltagsdenkens und -lebens. Dass man gleichzeitig mit türkischen oder vietnamesischen Nachbarn gut auskommt, wenn auch auf die eher ungesellige deutsche Art, widerspricht dem überhaupt nicht.“ Linke Politik solle daher „nicht auf eine umfassende Säuberung der öffentlichen Sphäre von Haltungen und Haltungsbekundungen drängen, die aus grüner Perspektive nicht bunt genug sind. Ausgenommen sind hart-braune menschenverachtende Hassbekundungen, für deren Unterdrückung in Deutschland aber glücklicherweise das Strafrecht zur Verfügung steht.“
Moralische Umerziehungsversuche gegenüber der Masse der Bevölkerung könne die Linke den Grünen überlassen, die sich damit immer wieder die Finger verbrannt hätten und deren gegenwärtiger Aufschwung wohl auch darauf zurückzuführen sei, dass sie ihren den Leuten auf die Nerven gehenden Moralismus bemerkbar heruntergekühlt haben. Die gegenwärtige Besoffenheit des links-grünen Spektrums mit symbolischer Exklusionspolitik nach innen, ausgrenzenden Schreib- und Sprachregelungen, moralischer Verurteilung nahestehender Minimalabweichler und so weiter stehe einer linken Politik entgegen, die die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt.
Streek sieht „einen riesigen strukturellen Bedarf nach linker, das heißt die Gesellschaft durch Mehrung ihrer kollektiven, allen gleichermaßen zugutekommenden Güter zusammenhaltender Politik“, vom Nahverkehr bis zum Schulsystem. Angegangen werden müssten die wachsenden Disparitäten zwischen den aufsteigenden Zentren und der zurückfallenden Peripherie, die Entschuldung verschuldeter Kommunen, eine nachhaltige Kompetenzsteigerung der vielerorts ausgebluteten öffentlichen Verwaltung, die Förderung von Genossenschaften, aufwendige Investitionen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels, alles verbunden mit einer Abkehr von der „Schwarzen Null“. Das nennt er einen „realistischen Antikapitalismus“. Manchmal habe man jedoch „das Gefühl, als ginge es manchen Linken stattdessen um die möglichst weite Verbreitung von Gendersternchen“.
Der Streit zwischen Kipping und Wagenknecht war auch dadurch bestimmt, dass erstere auf libertäre, post-materialistische Symbolpolitik setzt und letztere einen realistischen Antikapitalismus in den Mittelpunkt stellen will. Solange das in der Linkspartei nicht ausdiskutiert wird, nutzt auch die Urwahl einer neuen Spitze zum Zwecke größerer Nestwärme nichts.