22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Der Osten darf in Teilen anders sein

von Stephan Wohanka

„Vor den Wahlen wollen wieder alle den Osten verstehen. Doch der hat sich längst ausdifferenziert bis zur Unkenntlichkeit“, lautete der Untertitel eines Essays in der taz. Es schlage wieder „die Stunde der Ostversteher“. Der Herbst könne jene Wahlergebnisse – AfD! – liefern, „die die öffentliche Mehrheitsmeinung darin bestätigen, dass der Osten ein merkwürdiges Terrain ist […] Aber was ist eigentlich ostdeutsch? Eine rein geografische Definition – der Osten ist das Gebiet der ehemaligen DDR – ist inzwischen selbst den Apologeten des Ostdeutschen zu dürftig.“
Eine „rein geografische Definition“ des Ostdeutschen ist tatsächlich „zu dürftig“. Aber „ausdifferenziert bis zur Unkenntlichkeit“? Stichwort „AfD“: Man darf diese Partei nicht hochreden und -schreiben, aber man kann schon fragen, warum sie im Osten einen ungleich stärkeren Zulauf hat als im Westen. Wo liegen mögliche – über die immer wieder verhandelten hinaus – Ursachen, Tieferliegendes? Der taz-Essay gibt einen Hinweis: „Ältere Prägungen schlagen jetzt, wo die Episode DDR immer länger zurückliegt, durch – und verknüpfen sich mit neuen regionalen Identitäten. […] Aber historische Prägungen überdauern die Zeiten, in denen sie entstanden sind. Noch lange, nachdem ihre Grundlagen weggefallen sind, existieren sie fort.“ Zur „geografischen“ sollte eine historische Definition kommen!
Die Geschichte kann erhellen, dass die Wurzeln des deutschen antiwestlichen Ressentiments weit in die Geschichte zurückreichen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte stets etwas anderes sein wollen als die westlichen, damals schon ausgebildeten Nationalstaaten, nämlich ein universales, übernationales Gebilde. Die Sprache war Verbindung, so dass der Politologe Christian Graf von Krockow von einer „vorpolitischen Einheit als Sprachnation“ spricht. Napoleon setzte dem ein Ende und führte 1804 den Code Civil ein. Dessen Fundamente sind die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, Freiheitsrechte für alle und der Schutz privaten Eigentums – also Forderungen der Französischen Revolution von 1789, aber auch progressiver Ideen aus dem anglo-amerikanischen Raum. Als Bürgerliches Gesetzbuch regelt der Code Zivil- und Familienrechtliches, die Trennung von Kirche und Staat, erlaubt die freie Berufswahl und vieles mehr. Er ist alles in allem ein fortschrittliches Gesetzeswerk; mit signifikanten Wirkungen auf die Gesetzgebung deutscher Staaten. Wo liegt die Crux? Der damit verbundene rechtliche, ja politische Fortschritt wie die genannten Menschenrechte war französischer, „westlicher“ Herkunft. Dieser „Westen“ war in Gestalt Napoleons der Eroberer Deutschlands. In den Befreiungskriegen gegen das „korsische Ungeheuer“ entwickelte sich die deutsche Identität – Schwarz, Rot, Gold waren die Farben der Lützower Jäger. Zugleich war das die Gelegenheit, der „unpolitischen“ Sprach- und Kulturnation den für die „Politisierung“ notwendigen Feind zu liefern: Deutsches Selbstsein entwickelte sich also gegen den „Westen“, gegen Frankreich, den späteren „Erbfeind“. Die schwerwiegenden Folgen: In politischen Krisenlagen wurde und wird nationales Bewusstsein virulent, sich schnell zu antiwestlichem Ressentiment steigernd. Dann war und ist es nur noch ein kurzer Weg zur Ablehnung der „westlichen“ politischen Kultur mit ihren Institutionen und Normen.
Dass diese Tendenz sich momentan stärker im Osten als im Westen abzeichnet, wurde schon angedeutet. Aber ein spezifisches Anderssein des Ostens gibt dieser historische Kontext nicht her. Also doch „ausdifferenziert bis zur Unkenntlichkeit“? Der Historiker Stefan Wolle gibt einen Fingerzeig: „Historische Grenzen bleiben noch über Jahrhunderte bestehen, auch die Elbe-Saale-Grenze.“ Liegen die zwischen Ost und West auszumachenden politischen, habituell-emotionalen Differenzen also letztlich darin, dass die gegenwärtige politische Kultur wieder ein Land umfasst, dass auf beiden Seiten des römischen Limes, der Main- und Elbe-Saale-Grenze lag und liegt, zu dem der kelto-germanisch-römische Westen ebenso gehörte und gehört wie der germanisch-slawische Osten? Dafür gibt es Indizien.
Der links der Elbe liegende Teil durchlief eine „Selbstromanisierung“ (Wolfgang Spickermann). Zur Demonstration ihres Herrschaftsanspruchs, aber auch um die Landschaft zu formen, überzogen die Römer Gallo-Germanien mit kultur- und landschaftsprägenden Bauten, auch außerhalb der Städte. Damals entstandene Monumente sind heute noch namentlich in Trier zu bestaunen, das auch als Bischofssitz bei der in Teilen parallel dazu verlaufenden Christianisierung dieser Territorien eine wichtige Rolle spielte. Dazu gehörten gepflasterte Straßen mit porträtgeschmückten Meilensteinen, Aquädukte, Kastelle, Heiligtümer wie der Martberg an der Mosel – ein gallo-römischer Tempelbezirk von überregionaler Bedeutung. Diese weit über das Logistische hinausgehende Infrastruktur machte aus, dass römische Kultur und Lebensart ungehindert Raum greifen konnten, ihre unwiderstehliche Art den Unterworfenen zu demonstrieren vermochten und diese so korrumpierten. Was sie bereitwillig zuließen. „Die Welt, in der man sich bewegte, wurde römisch“, so die Althistorikerin Marietta Horster. Und christlich. Die rheinische Frohnatur, eine „Leichtigkeit des Seins“, prägt bis heute die Rheingegend.
Rechts der Elbe liegt „Ostelbien“ – mit unklarer Abgrenzung in die Tiefen des Ostens. In diese Zone drangen in die während der Völkerwanderung von Germanen verlassenen Gebiete slawische Stämme wie Abodriten, Liutizen ein. Unter den Ottonen und Saliern kam es zu Eroberungsfeldzügen jenseits dieser östlichen Reichsgrenzen und zur Errichtung von „Marken“ zur Eintreibung von Tributen. 1147 kam es zum „Wendenkreuzzug“; eine Kolonisation also. Die Christianisierung beschränkte sich auf massenhafte Zwangstaufen und die Errichtung von Missionsbistümern wie Brandenburg. Unter dem Schutz obiger Herrscher schufen Mönchsorden eine straff organisierte christliche Kirchen- und Klosterkultur und bauten (land)wirtschaftliche Musterbetriebe auf. Die historisch spätere kulturelle Formung des östlichen Territoriums erfolgte so durch den römisch-christlichen Westen, war – nicht nur, aber in Teilen – oktroyiert und trug Züge der Akkulturation, das heißt eines Anpassungsdrucks an Wertvorstellungen, Sprache, Religion, Technologie und anderes. Trotz Ansiedlung vieler Deutscher hatte das Land fortan einen slawisch-deutsch gemischten Charakter, mit allen Ressentiments auf beiden Seiten, die so etwas zu allen Zeiten und an jedem Ort mit sich bringt. Welch ein Unterschied zum Westen! „Viele Gebiete der früheren DDR (und so auch der heutigen BRD – St.W.) sind […] identisch mit denen östlich der Elbe, die immer schon als ein Synonym für das galten, was zurückgeblieben war […] alles Ostelbische war seit Jahr und Tag dort, wo sich Ochs und Hase ,gute Nacht‘ gesagt haben. Das war Jahrhunderte lang so“, schreibt Stefan Wolle, wobei dies nicht für Sachsen und Thüringen gelte. Genannte Länder können jedoch für sich in Anspruch nehmen, in der Reformation als einer widerständigen Loslösung vom papistischen Rom eine primäre Rolle gespielt zu haben. Der Osten ist so das Kernland des Protestantismus, und zu dessen Wesen gehört der Protest. Wanderten historisch noch später Menschen aus Schlesien, Posen und Pommern – also aus den germano-slawischen Gebieten – als Arbeiter ins Ruhrgebiet, so nannte man sie halb spöttisch, halb liebevoll „Brüder aus der kalten Heimat“…
Wenn die Gegenwart „einwirkende Vergangenheit“ (Hermann Heimpel) ist, dann ist der Osten einigermaßen anders durch diese Einwirkung geprägt als der Westen. So kann die Geschichte der Akkulturation, der Fremdbestimmung, das „Zurückgebliebene“ und Widerständige, Rebellische mit einer latent ressentimentgeladenen Attitüde durchaus eine kollektive „Ostidentität“ hergeben, innerhalb des nationalen Selbst. Unterschwellig wabert so immer noch eine tendenziell skeptisch-abwehrende Weltsicht umher, verquickt mit der Anerkennung starker, rücksichtsloser Autorität als Eckpfeiler jeglicher Politik. Überdies ist es auch heute nicht ohne weiteres einzusehen, weshalb man sich im barocken, „römischen“ Bayern mit der Geschichte des nüchtern-protestantischen Preußen identifizieren sollte und umgekehrt. Zumal auch heute Deutschland ein Bundesstaat ist. Der zeichnet zwar nicht mehr die territorialen Zersplitterung nach – der wir wiederum eine bis heute nachwirkende Vielfalt an Residenzen, Stadttheatern, Parks, Denkmälern und anderen Kulturstätten verdanken –, die bis zur erneuten Reichsgründung 1871 deutsche Normalität war, macht aber aus, dass es „die“ Deutschen als homogene politische Nation nicht gibt. Aus all dem kann eine östliche emotionale Präferenz für ein stärker verfangendes politisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das als Kehrseite die Abgrenzung zum Westen verursacht, erklärt werden. Das wiederum kann erhellen, warum völkisch agitierende Figuren wie die „Wessis“ Götz Kubitschek und Björn Höcke im Osten mehr politischen Anklang finden als im Westen. Diese selbst berufenen „Verteidiger des Abendlandes“ bewegen sich – gewollt oder nicht – durchaus auf historischen Spuren, überhöht im Mythos („Kyffhäuser“). Letztlich fußt die von vielen Ostdeutschen in Teilen zu Recht empfundene politische und kulturelle Bevormundung auf „westlichen“ paternalistischen Geschichtserfahrungen, sozusagen aktualisiert durch wiederkehrende Verhaltensweisen gleichen Musters.
Alles in allem wird der Osten ein eigener – auch historischer – Erfahrungsraum bleiben; schnelle Nivellierungen sind nicht zu erwarten. Was jeder einzelne der Bewohner dieses „merkwürdigen Terrains“ aus der wohl in den wenigsten Fällen bewusst reflektierten historischen „Bürde“ macht, liegt bei ihm. Sie entlässt ihn nicht aus der politischen Verantwortung für sich selbst.