22. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2019

Manches war doch anders* – Das Schürer-Papier.
Oder: über Ursachen und Wirkungen

von Sarcasticus

In wenigen Wochen wird sich der Tag zum 70. Male jähren, an dem im Jahre 1949 die DDR gegründet wurde. Man muss längst nicht mehr gespannt sein, wie sich Die Linke dieses Datums annehmen wird, denn nichts spricht dafür, dass sie nachholen wird, was sie schon seit dreißig Jahre versäumt zu tun: Sich daran zu erinnern, dass Gründung (und Untergang) des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden, so die offizielle SED-Diktion, vor allem ein Menetekel sind. Nämlich dafür, wie man die grundsympathische Idee eines im Vergleich zu allen vorherigen Gesellschaftsformationen gerechteren Gemeinwesens – ohne Reiche und Superreiche, aber vor allem ohne abgehängte Unterschichten sowie ohne die Macht einer Herrschaftselite über alle anderen – im praktischen Umsetzungsversuch von Anfang an so gründlich entstellen und diskreditieren kann, dass Menschenmassen sowohl zu Beginn als auch gegen Ende der Versuchsanordnung durch Abstimmung mit den Füßen zeigten, was sie davon hielten. Stanisław Jerzy Lecs zeitloses Diktum jedenfalls – „Jedes Regiment wird schließlich zum ‚ancien régime‘.“ – hatte sich 1989 in der DDR längst erfüllt. Und so lange Die Linke keine ernstzunehmenden Angebote dafür unterbreitet, wie eine erneute Pervertierung der Idee beim nächsten Versuch zu vermeiden wäre, spielt sie nicht nur den Gegnern der Idee in die Hände, sondern verschenkt auch eine Chance, ihrem Rückgang in der Wählergunst etwas Substantielles entgegenzusetzen, geschweige denn gestaltungsrelevante Mehrheiten zu gewinnen. Apropos Lecs Diktum und die Gunst der Wähler: Schon seit Jahren verdichten sich die Anzeichen dafür, dass es dem republikanisch-bürgerlichen Verfassungsparlamentarismus im Westen in absehbarer Zeit ähnlich wie der Idee des Sozialismus ergehen könnte. Nur dass die Abstimmung dieses Mal an den Wahlurnen erfolgt und nicht mit den Füßen, denn der Wohlstand, um den es den Menschen mehrheitlich und vornehmlich geht, ist heute ja im Überfluss vorhanden. Bloß mit der Verteilung hapert es gewaltig. Dabei hat der bürgerliche Parlamentarismus gegenüber Grenzanlagen mit Stacheldraht und Minenfeldern den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass er – wie man spätestens seit der Weimarer Republik wissen sollte – die Instrumente zu seiner quasi legalen Beseitigung gleich mitliefert.
Doch zurück zur DDR. Als deren finaler Schwelbrand bereits ausgebrochen war – die Fluchtbewegung über die Tschechoslowakei und vor allem Ungarn hatte ja längst Fahrt aufgenommen, als der Mauerfall am 9. November 1989 die Schleusen nach draußen endgültig aufstieß –, kamen seinerzeit zusätzlich noch einige Brandbeschleuniger zum Einsatz, die die wirtschaftliche Statik des DDR-Systems unwiderruflich untergruben. Den Anfang machte dabei das sogenannte Schürer-Papier, das seine weichenstellende Wirkung vornehmlich hinter den Kulissen entfaltete, bevor die Währungsunion vom 1. Juli 1990 der ostdeutschen Exportwirtschaft den Hahn abdrehte. Die noch in der DDR erfundene, aber nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 nach Bonner Diktat von den Füßen auf den Kopf gestellte Treuhand brauchte dann nur noch das Werk des Abdeckers erledigen, in dessen Ergebnis jedoch selbst wettbewerbsfähige Einheiten der DDR-Wirtschaft vorsätzlich mit über die Wupper gejagt wurden. Wie etwa die Kaliförderung im thüringischen Bischofferode, von der die westdeutschen Hersteller sich keine Konkurrenz machen lassen wollten.
Zur Vorgeschichte gehört, dass Erich Honecker und die am engsten mit ihm verbundenen Politbürokraten Günter Mittag und Joachim Herrmann am 17. Oktober 1989 von Rest des Politbüros kalt gestellt worden waren, und Egon Krenz, der es in den fünf Wochen seines Interregnums bis zum wirklichen Hoffnungsträger nicht schaffen sollte, das Ruder an der Spitze des SED übernommen hatte. Am 23. Oktober 1989 beauftragte er ein Team von Wirtschaftsexperten um Gerhard Schürer, den Chef der Staatlichen Plankommission, unverzüglich eine ungeschönte Analyse des Ist-Zustandes der wirtschaftlichen Lage der DDR samt Schlussfolgerungen für das Politbüro zu erarbeiten. Beteiligt waren unter anderem auch Gerhard Beil, der damaligen Außenhandelsminister, und Alexander Schalck-Golodkowski, der Chef der sogenannten Kommerziellen Koordinierung (KoKo), des DDR-Devisenbeschaffungsimperiums mit seinem verzweigten klandestinen Netz von Firmen, Verbindungen und Guthaben vor allem in westlichen Ländern.
Eine Woche später lag das Papier vor. Eingestuft als „Geheime Verschlusssache […] Vernichtung: 31.12.1989 Geheimhaltungsgrad darf nicht verändert werden“. Die zentralen Horrorbotschaften lauteten:

  • Arbeitsproduktivität: Rückstand gegenüber der BRD – 40 Prozent.
  • Rückgang der Akkumulation für produktive Investitionen von 16,1 Prozent 1970 auf 9,9 Prozent 1988.
  • Anstieg des Verschleißgrades in zentralen Bereichen der Volkswirtschaft: in der Industrie von 47,1 Prozent 1975 auf 53,8 Prozent 1988, im Bauwesen von 49 Prozent auf 67 Prozent, im Verkehrswesen von 48,4 Prozent auf 52,1 Prozent und in der Land-, Forst und Nahrungsgüterwirtschaft von 50,2 Prozent auf 61,3 Prozent.
  • Anstieg der Auslandsverschuldung der DDR von zwei Milliarden Valutamark (VM) 1970 auf 49 Milliarden 1989: (Was damals etwa 26 Milliarden US-Dollar entsprach.) Und: „Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 – 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen.“

Die Angabe zur Auslandsverschuldung war der eigentliche Hammer, der nachfolgend als Brandbeschleuniger wirkte. Zwar erfuhr die DDR-Bevölkerung nichts davon und auch die seit November 1989 amtierende Modrow-Regierung blieb ahnungslos, doch nach Bonn gelangte das Papier. Dort wurde es im Februar 1990 einer hochrangigen DDR-Delegation, die unter anderem über finanzielle Transfers verhandeln wollte, aber vom Schürer-Papier keine Kenntnis hatte, unter die Nase gerieben – mit der knallharten Ansage: Mit Pleitiers gäbe es nichts zu verhandeln und über finanzielle Leistungen an die DDR schon gar nicht. Seither wird das Schürer-Papier gern hinzugezogen, wenn demonstriert werden soll, wie marode, um nicht zu sagen moribund die DDR-Wirtschaft damals gewesen sei.
Der Rest ist Geschichte. Inklusive des Sachverhalts, dass die Angabe des Schürer-Papiers zur DDR-Auslandsverschuldung schlicht falsch oder doch zumindest die tatsächliche Lage gröblichst entstellend war. Denn seriöse Ökonomen rechnen doch etwas komplexer, als es die Verfasser des Papiers offenbar getan haben. So hatte KoKo-Chef Schalck zehn Tage nach der Erstfassung des Schürer-Papiers 13 Milliarden auf der Habenseite seines Schattenreiches vermeldet. Die wurden unter der Verantwortung von Schürer aber ebenso wenig mit bilanziert, wie die Verbindlichkeiten von solchen RGW-Partnern wie der UdSSR, Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei gegenüber der DDR, die sich auf immerhin 29 Milliarden VM summierten, und die DDR-Guthaben bei elf Entwicklungsländern, die sich auf zusammen 6,75 Milliarden DM beliefen. Als die Bundesbank 1999 nachrechnete, blieben an Auslandsschulden der DDR mit Stand für 1989 dann auch nur noch 19,9 Milliarden übrig. Eine Ziffer, auf die sich Schürer selbst übrigens bereits 1990 korrigiert hatte: „Die Auslandsverschuldung der DDR war mit 20,3 Milliarden DM um mehr als die Hälfte niedriger, als wir im Oktober 1989 ausgewiesen haben.“
Bleibt die Frage nach dem Zweck der Überdramatisierung im Schürer-Papier, wenn man keine böse Absicht unterstellen will. Edgar Most, der damalige stellvertretende Direktor der DDR-Staatsbank und ein weiterer Mitautor des Papiers, erinnerte sich später: „Dieses Papier hatte einen Zweck. Wir wollten dem Erich-Honecker-Nachfolger Egon Krenz Druck machen und ihm vermitteln, dass wir völlig neu denken müssen.“ Das kann man durchaus so stehen lassen, aber dann muss zumindest die Bemerkung gestattet sein: Ein noch finaleres Eigentor ist kaum vorstellbar.
Als Kollegin Maritta Tkalec in der Berliner Zeitung jüngst ausführlich über das Schürer-Papier und seine Auswirkungen berichtete, stand ihr Beitrag unter der Überschrift: „DDR war moralisch bankrott, aber nicht pleite“.
Bei einem solchen Tenor ist jedoch Vorsicht geboten, weil er leicht dahingehend interpretiert werden könnte, dass die DDR ökonomisch letztlich doch zu retten gewesen wäre. Fakt bleibt aber, dass sich der Stand der Auslandsschulden der DDR von 1970 bis 1989 immerhin verzehnfacht hatte und erheblicher weiterer Kreditbedarf bestand. Ob die Rezepturen des Schürer-Papiers zur grundlegenden Reformierung der DDR-Wirtschaft, die von der Abschaffung der zentralen Planung über die Reprivatisierung von Klein- und Mittelbetrieben bis zum Umsteuern in der Preis- und Subventionspolitik und der Aufforderung reichten, den „Wahrheitsgehalt der Statistik und Information […] auf allen Gebieten zu gewährleisten“, tatsächlich hinreichende Ansatzpunkte zur Besserung der wirtschaftlichen Misere geliefert hätten, muss eine offene Frage bleiben, denn die Abstimmung eines Teils der DDR-Bevölkerung mit den Füßen war ja in vollem Gange und die tölpelhafte Grenzöffnung vom 9. November 1989 schließlich, nur wenige Tage nach Fertigstellung des Schürer-Papiers, entzog solchen Vorschlägen vollends den Boden.
Vor allem aber muss ein von der DDR nicht zu beeinflussender Faktor in Fragestellungen zum Untergang der DDR immer mit einbezogen werden, den Egon Krenz bei der Vorstellung seines jüngsten Buches („Wir und die Russen. Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst 1989“) am 11. Juli im Russischen Haus in Berlin in trefflicher Kürze benannte: „Als die Sowjetunion im Sterben lag, hatte die DDR keine Chance mehr.“

* – So der Titel der 1968 erschienenen Lebenserinnerungen von Ernst Lemmer (CDU), deutscher Journalist und Politiker, unter anderem nach Kriegsende in führender Position beim FDGB in der Sowjetischen Besatzungszone, später Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen (1957–1962). Wir haben den Titel für eine unregelmäßige Reihe historischer deutsch-deutscher Reminiszenzen entlehnt, deren Auftakt-Beitrag in der Ausgabe 4/2012 erschienen ist.