22. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2019

INF-Vertrag vor dem endgültigen Aus

von Jerry Sommer

Die Bundesregierung wurde im Oktober vergangenen Jahres von der Ankündigung des US-Präsidenten überrascht, den Vertrag über ein Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen in Europa zu kündigen. Sie erklärte schnell ihr großes Interesse am Erhalt des INF-Abkommens. Beim G20-Gipfel Ende November sprach zum Beispiel Angela Merkel mit Donald Trump darüber. Schließlich entschied der US-Präsident, die formale Kündigung des Vertrages um zwei Monate, auf Anfang Februar, zu verschieben. In dieser Zeit setzte Deutschland seine Rettungsbemühungen fort, sagt der Rüstungsexperte Ulrich Kühn vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik: „Da ist man an die USA herangetreten und hat eben versucht, zu sagen: Warum denn nicht Transparenz für Transparenz eintauschen? Da hat man sich wohl doch eine relative Abfuhr in Washington eingeholt. Die amerikanische Seite hat gesagt, dass sie sich auf diesen Deal nicht einlässt.“
„Transparenz für Transparenz“ – damit war gemeint: Die Russen lassen ihren umstrittenen Marschflugkörper 9M729 vor Ort von Experten überprüfen. Die USA behaupten, dieser landgestützte Marschflugkörper mit der NATO-Bezeichnung SSC-8 habe eine Reichweite von mehr als 2.000 Kilometern. Damit aber würde er den INF-Vertrag verletzen. Moskau bestreitet, dass der Flugkörper weiter als 500 Kilometer fliegen kann. Zugleich wirft Russland seinerseits den USA vor, mit den in Rumänien und demnächst auch in Polen aufgestellten Startgeräten ihrer Raketenabwehrwaffen den INF-Vertrag zu verletzen. Denn diese sind identisch mit den Startkanistern für die seegestützten amerikanischen Tomahawk-Cruise Missiles. Diese Waffen haben eine Reichweite von über 2000 Kilometern. Eine Stationierung der Startkanister an Land wäre daher ein Verstoß gegen den INF-Vertrag. Nach dem deutschen Vorschlag sollten westliche Experten die russischen 9M729-Marschflugkörper und russische Fachleute die US-amerikanischen Startgeräte in Rumänien und Polen überprüfen.
Denn Rüstungsexperten halten die russische Position durchaus für nachvollziehbar. Zum Beispiel der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Karl-Heinz Kamp: „Es gibt ja Vorwürfe Russlands, dass die USA in ihren Starterhüllen für das Raketenabwehrsystem ebenfalls Marschflugkörper verbotener Reichweite verschicken könnten. Da sagen die Amerikaner: das geht nicht. Da geht die Software nicht. Das erklärt sich selbst einem Laien, dass man eine Software relativ einfach auswechseln kann.“
Zudem erklären die USA, dass sie keine Marschflugkörper in Rumänien stationiert hätten und einen solchen Schritt auch nicht planten.
Eine kooperative Lösung der Streitfragen um den INF-Vertrag hatten Konfliktforscher und Sicherheitspolitiker schon seit langem vorgeschlagen.
Für ihren Vorschlag „Transparenz gegen Transparenz“ hat die Bundesregierung allerdings nicht offensiv und mit Nachdruck geworben. Dabei wurde sie zunächst nicht müde zu betonen, die verbliebene Zeit bis zum Inkrafttreten der Kündigung müsse genutzt werden.
Jedoch ist zu bezweifeln, dass stärkere und öffentliche Bemühungen Deutschlands erfolgreich gewesen wären. Denn in der EU und den europäischen NATO-Staaten gehen die Meinungen auseinander. Und die Trump-Regierung mit ihrer „America First“-Politik nimmt keine Rücksicht auf Verbündete und hatte kein Interesse an einer kooperativen Lösung. Bereits auf der NATO-Tagung im vergangenen Dezember hatte US-Außenminister Pompeo ein Ultimatum gestellt: entweder zerstört Russland vor dem 2. Februar 2019 alle seine 9M729-Systeme samt der dazugehörigen Infrastruktur oder die USA kündigen den INF-Vertrag. Das zeigt für den Sicherheitsexperten Wolfgang Richter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, dass es in der gegenwärtigen US-Regierung keine Bereitschaft gibt, am INF-Vertrag festhalten: „Ein Ultimatum – das ist so etwas wie eine Kapitulationsaufforderung: Entweder ihr zerstört oder wir gehen aus dem Vertrag raus. Also der Mittelweg ist nicht ernsthaft von den Amerikanern erwogen worden – von den Russen, würde ich sagen, zu spät, aber immerhin erwogen worden. Am Ende hat Russland gesagt, wir können uns auf eine Verifikation des Systems einlassen. Sie haben vor Ort-Besuche oder Inspektionen angeboten.“
Moskau hatte zudem im Januar einen Behälter für den umstrittenen Marschflugkörper öffentlich vorgeführt – allerdings ohne Waffe. Westliche Experten hielten diesen Pressetermin für ungeeignet, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Washington hatte ohnehin jede Teilnahme abgelehnt und war auch nicht daran interessiert, die Chancen für darüberhinausgehende Inspektionsangebote auszuloten.
Die späte und verhaltene Bereitschaft Russlands zu Transparenz wird von einer Reihe von Sicherheitsexperten zugleich als Beleg dafür angesehen, dass nicht nur die USA, sondern auch Russland – entgegen der Aussagen der russischen Regierung – den INF-Vertrag ad acta legen möchte – vor allem vor dem Hintergrund der chinesischen, indischen und iranischen Mittelstreckenraketen. Dazu Kamp: „Russland hat seit Mitte der Nuller-Jahre 2004/05 über stille Kanäle die Amerikaner wissen lassen, dass es eigentlich an den INF-Vertrag nicht mehr so wirklich interessiert ist, weil es ihre strategischen Rahmenbedingungen etwas stört.“
Eine Beurteilung, die allerdings von Wolfgang Richter nicht geteilt wird. Denn zum einem habe Russland seegestützte Systeme im Kaspischen Meer stationiert. Moskau brauche also keine landgestützten Mittelstreckenraketen als Gegengewicht zum entsprechenden Raketenarsenal der asiatischen Staaten. Zum anderen sei das Verhältnis der Russen zu diesen Ländern gut. Richter betont: „Sie haben weder mit Iran gespannte Beziehungen. Und die eigene Beziehung zu China ist natürlich im Moment zumindest entspannt: Sie haben gemeinsame Interessen, die sich gegen die USA richten.“
Wie auch immer man das russische Interesse am INF-Vertrag einschätzt: Dieses Abkommen wird am 2. August – wenn die sechsmonatige Kündigungsfrist abgelaufen ist – Geschichte sein. Kein Experte geht davon aus, dass eine kooperative Lösung – und damit ein Erhalt des Vertrages – noch möglich ist.
Statt einer politischen Lösung sind daher militärische Antworten der NATO zu erwarten. Allerdings nicht im nuklearen Bereich. So sieht es jedenfalls Karl-Heinz Kamp: Es gibt keinerlei Pläne von amerikanischer Seite, da nun neue nukleare Fähigkeiten in Reaktion auf INF-Verletzungen aufzubauen. Es ist ganz klar gesagt worden, wenn man sich dazu entschließt militärisch zu reagieren – und selbst das ist noch nicht in Stein gemeißelt – dann wird es eine konventionelle Antwort sein.“
Jedoch ist nicht ausgeschlossen, dass die USA nuklear bestückte Mittelstreckenwaffen im europäischen Raum auf ihren Schiffen stationieren.
Ulrich Kühn rechnet damit, dass schon bald eine Debatte in der NATO über eine sogenannte „Nachrüstung“ mit landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa beginnen wird. Dass die USA gegenwärtig nur von einer konventionellen Bewaffnung sprächen, könne auch taktische Gründe haben, glaubt Kühn: „Ich denke, hier wird momentan den Europäern eine Beruhigungspille gegeben, um zu sagen: regt euch nicht auf, es sind keine Nuklearwaffen. Aber in dem Moment, wo man anfängt, solches Gerät zu stationieren, öffnet man die Tür für weitere Stationierungen.“
Doch auch neue, konventionell bestückte Mittelstreckenraketen der NATO in Europa würden von Russland – so hat es Präsident Putin schon angekündigt – mit der Aufstellung entsprechender neuer Waffen beantwortet werden. Richter warnt daher vor einem Rüstungs-, respektive Stationierungswettlauf in Europa und schlägt vor: „Man müsste sich überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, sehr frühzeitig parallele, politische Signale zu geben, auf eine Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa diesseits des Urals zu verzichten.“
Solche „Signale“ könnten auch durch einseitige Erklärungen Russlands und der NATO erfolgen. Bleiben würde allerdings der Streit um die Reichweite der schon westlich des Urals stationierten schätzungsweise rund 50 russischen 9M729-Marschflugkörper. Hier könnte auch nach dem Ende des INF-Vertrages nur wechselseitige Transparenz eine Lösung bringen. Doch dazu müssten sich zunächst die politischen Beziehungen zwischen Russland und den NATO-Staaten verbessern, Danach sieht es zurzeit nicht aus.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Sendereihe „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 30.06.2019).