von Wolfram Adolphi
Der Erste Weltkrieg war kein Kampf der Kapitalisten gegen die Kommunisten, kein Systemkonflikt zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsprojekten, sondern einfach nur der Kampf verschiedener imperialistischer Staaten um Einflusssphären, Rohstoffe und Absatzmärkte. Einfach nur. So eindeutig. – Damit ihn die Leute mitmachten und ertrugen, wurde ihnen der Krieg als eine auf Ewigkeit zum Menschen gehörende Normalität schöngeredet, überschüttete man sie mit grellen, vor keiner Schulstube halt machenden Feindbildern, und um auch den letzten Zweifel an diesen zu beseitigen, wurde zugleich das je Eigene – das „Nationale“ – vergottet und vergöttert und Gott noch in der kleinsten Dorfkirche auf die „nationale“ Seite geholt.
Warum daran erinnert werden muss? Weil Wiederholung droht. Und zwar mit Wucht. Vielleicht auch mit schlafwandlerischer. Was es nicht besser, sondern schlimmer macht. Denn eigentlich soll Erfahrung vor Wiederholung schützen.
Da ist also China. Von dem nun auch im fernsten deutschen Redaktionswinkel bekannt geworden ist, dass es sich um eine Weltmacht handelt. Das ist ja zunächst nicht schlecht. Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, schadet nicht. Aber schlecht, wirklich schlecht ist der reflexionsartige Aufruf zum Kampf. China erstarkt – wir müssen dagegenhalten. Das klingt so schön, so selbstbewusst. Da ist man sich einig von rechts bis links. Diese Herausforderung, schallt es von überallher, müssen wir bestehen. Da müssen wir uns wappnen. Und uns vereinigen.
Aber wer ist eigentlich „wir“? „Wir Deutschen“? Nun ja. „Wir Europäer“? Klingt besser, moderner, korrekter. Und ist doch beides Quatsch. Keiner weiß wirklich zu sagen, wer „wir“ sind – in Deutschland nicht und schon gar nicht in einem Europa, das gar nicht Europa ist, sondern nur die Europäische Union und als solche in sich zerrissen und zersplittert, wie es ärger kaum geht. Wer also will und soll und sollte und könnte sich wappnen? Und wogegen?
China ist der bevölkerungsreichste Staat der Erde, gesellschaftlich beispiellos organisiert und unerhört kapitalkräftig. Als es noch nicht unerhört kapitalkräftig war, war der Bevölkerungsreichtum für die westlichen Imperialisten, die das Land im neunzehnten Jahrhundert ohne auch nur die geringsten Skrupel ihren Interessen unterworfen haben und darin bis 1949 in unerschütterlicher Selbstgefälligkeit fortgefahren sind, nur eine exotische Fußnote. Sehr viele Menschen waren es, aber so arm und so schwach, dass ein paar Kanonenboote reichten, um sie in Schach zu halten. Und die Gesellschaftsorganisation? Sie war – ungeachtet ihrer mannigfachen Wandlungen – nichts anderes als eine treffliche Projektionsfläche für die eigene Überlegenheit. China war weit weg, ganz anders und bestens geeignet zur Produktion und Reproduktion des westlichen „Wir“-Gefühls.
Aber nun – oh Graus! – ist alles anders. Nun macht das chinesische Kapital genau das, was das Kapital – wie spätestens seit Marx kein Geheimnis mehr sein dürfte – immer macht: Es expandiert. Und zwar dahin, wo es beste Verwertung erwarten kann. Also auch – Gott bewahre – nach Europa! Es ist – Verzeihung! – Mehrwert heckender Wert. Unabhängig davon, welche Sprache seine Besitzer sprechen und welche Hautfarbe sie haben und wie sie sich organisieren. Es vollzieht in seiner nun in China konzentrierten Variante nach, was es vom westeuropäischen und US-amerikanischen und zaristisch-russischen und japanischen Kapital seit Jahrhunderten erlebt hat. So einfach ist das. In dieser scheinbar so komplizierten Welt.
Und die westliche Antwort? „Wir“ sollen uns wappnen. Damit „wir“ das begreifen, wird erst einmal weiter am Feindbild gefeilt. Seit der deutsche Kaiser im Jahre 1901 zur Rechtfertigung der brutalen Niederschlagung des Boxeraufstandes die Beschwörung der „Gelben Gefahr“ zelebrierte, haben die in Deutschland Herrschenden darin mannigfache Übung. Gerade muss – da sind sie sich mit den Anderen im transatlantischen Westen trotz sonstiger dramatischer innerer Widersprüche herzinnig einig – der Internetkonzern Huawei den Sündenbock geben (gesprochen übrigens chuaweeih mit einem ch wie in „ach“ und einem ganz leichten i am Ende, aber das ist bei östlichen Sprachen – anders als beim Englischen, Französischen und Spanischen – nicht so wichtig, da gibt sich der deutsche Mainstream seine eigenen Regeln). Huawei also bedrohe mit seiner 5G-Technologie die Welt, heißt es, darum muss die eigene westliche ran. und Wer erinnert sich da schon noch der Ausspionierung der Bundesregierung durch die US-amerikanische NSA.
Aber gut. Die eigentliche Frage reicht ja noch viel weiter. Worin soll das Sich-Wappnen denn nun bestehen? Effizienter sein als die chinesischen Unternehmen? Da der chinesische Aufschwung selbstverständlich – wie es dem Kapital eigen ist – auf Steigerung der Arbeitsproduktivität gründet (was bei der Feindbildpflege mit scharfen Worten bei gleichzeitiger Ausblendung der eigenen Verhältnisse regelmäßig als unerträgliche Ausbeutung gebrandmarkt wird), kann das Sich-Wappnen nur als Kampf um noch höhere Arbeitsproduktivität, noch höhere Effizienz und dementsprechende Verschärfung der Ausbeutung verstanden werden. Alles andere ist Augenauswischerei. Also Konkurrenz, Konkurrenz und nochmal Konkurrenz. Aber wo, bitte, und wann ist da ein Halt? Raketen? Atomsprengköpfe? Stützpunkte? Flugzeugträger? Hackernetze? Wo schlafwandelt sich das hin?
Nun sendet China Signale, dass es sein Seidenstraßen-Konzept als Teil einer weltweiten Friedens- und Harmonieoffensive betrachtet. „Natürlich“ lehnen „wir“ so etwas ab. Ohne es auch nur geprüft zu haben. Es erfüllt „uns“ mit tiefem Misstrauen, dass das chinesische Kapital dorthin kommt, wo „wir“ nicht nur keinerlei Investitionsinteresse hatten, sondern – viel schlimmer noch – „unseren“ Anteil an der fundamentalen Schwächung der Wirtschaft geleistet haben. Was besonders augenfällig in Griechenland stattgefunden hat, aber auch im einstmals sozialistischen Osteuropa, wo der Westen wirtschaftspolitisch agiert, wie es die Bundesrepublik mit dem Anschluss der DDR vorgemacht hat.
Im Januar 1989 – man will es nicht mehr glauben! – hat Gro Harlem Brundtland auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos dafür geworben, dass die sowjetische Perestroika in eine weltweite münden möge. Eine, bei der man sich auf neue, endlich friedliche, endlich kooperative Weise über die Meisterung der ökologischen, technologischen und gesellschaftspolitischen Probleme der Welt verständige. Denn es gehört nun schon seit mindestens einem halben Jahrhundert – seit den ersten Berichten des Club of Rome – zum festen Wissen der Menschheit, dass die globalen Probleme nur im globalen Zusammenwirken so gelöst werden können, dass die Menschheit überlebt.
Damals, vor fünfzig Jahren, verhinderten vielfältige Gründe, dass China schon Bestandteil weltweiter Anstrengungen sein konnte. Heute unterbreitet es eigene, sich auf langfristige Pläne der gesellschaftlichen Entwicklung gründende Vorschläge. „Wir“ müssen umdenken. Endlich, und: bevor es zu spät ist.
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