von Stephan Wohanka
„Europa, erhebe dich von den Knien!“
Beata Szydło (PiS), Ex-Ministerpräsidentin
Wie in der ganzen EU steht auch in Polen im Mai die Europawahl an; im Herbst sozusagen ergänzt um die eigenen Parlamentswahlen. Die Lager formieren sich in Gestalt der Vereinigten Rechten an der Spitze mit der Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) und der Europäischen Koalition mit dem Kern der wirtschaftsliberalen PO (Bürgerplattform). Es steht eine harte Schlacht ins Haus, soviel ist sicher…
Nicht über den Ausgang dieser Voten will ich spekulieren, sondern die ideellen Begrifflichkeiten, die ideologischen Prägungen vorstellen, auf die sich die Vereinigte Rechte respektive Polens Nationalkonservative berufen; was denken diese Kreise, namentlich zu Europa? Denn es bleibt – zumindest in hiesigen Medien – immer etwas nebulös, welche politischen Phantasien die Machthaber Polens dazu treiben, das Rechtssystem zu beschneiden, desgleichen die Pressefreiheit, und deutlich gegen die EU Stellung zu beziehen. Oder was die Quellen der innerpolnischen Konflikte sind wie den um das Abtreibungsrecht oder um den kulturhistorischen Kleinkrieg zur nationalen Geschichte.
Der als Motto ausgewählte theatralische Aufschrei der Beata Szydło stammt vom Mai 2017, als sie im Kontext eines Attentats im britischen Manchester ausrief: „Und ich habe den Mut, den politischen Eliten in Europa die Frage zu stellen: Wo geht ihr hin? Wo gehst du hin, Europa? Erhebe dich von den Knien und wache aus der Lethargie auf, denn sonst wirst du jeden Tag deine Kinder beweinen.“ Krzysztof Szczerski, Politologe und Kabinettschef des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda wiederum sieht „ein Europa der Utopie und Gewalt. Ein Europa, das sich in eine gefährliche Richtung bewegt. Ein Europa am Rande des Abgrunds.“ Beide bedienen ein wiederkehrendes Narrativ der polnischen nationalkonservativen Eliten – die „axiologische Leere“, also Wertelosigkeit der EU. Das verwundert; über nichts wird in Brüssel mehr geredet als über „europäische Werte“ wie Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Freiheit, Solidarität.
Gerade diese moralischen Instanzen sind jedoch den Ideologen des PiS-Polens regelrecht verhasst. Während die Anfänge der Integration Europas, so Polens Rechte, noch „auf dem christlichen Fundament der Versöhnung fußten“, kam es dann zu erwähnter Leere, da Szczerski zufolge die christlichen Wurzeln ersetzt wurden durch „politische Werte“ wie „Multikulturalität, Mobilität, Modernisierung, politische Toleranz, Bejahung der Vielfalt und sexueller Andersartigkeit, Rationalismus (atheistische Weltanschauung), Fortschritt, Ökologie usw.“. Deren Herkunft, so Szczerski weiter, verdanke sich einem „irreführende(n) Anthropozentrismus (neben der französischen Aufklärung sind damit auch die späteren „Totalitarismen“ gemeint – St.W.) mit dem aus ihm folgenden philosophischen Nihilismus und moralischen Relativismus“, der „die Urquelle allen Unglücks aus(machte), das die europäischen Völker in den letzten Jahrhunderten erfuhren. […] Heute wiederum hat diese irrende Anthropologie die sich unter den Europäern verbreitende Desorientierung und den Verlust des Lebenssinns zu verantworten. Denn das Fehlen einer Bezugnahme auf Gott und Christus verfälscht das wahre Bild vom Menschen und das Ziel, zu dem er berufen wurde, und darüber hinaus bewirkt die kulturelle Entfremdung der Bewohner Europas, ohne Christus, wie der Heilige Johannes Paul II. es sagte, dass wir als Europäer ‚Fremde in der eigenen Kultur‘ werden und den ‚Schlüssel zum Verstehen von uns selbst‘ verlieren.“
Es verwundert so nicht, dass die EU und ihre Symbole gewisse Emotionen wecken. So erregte sich eine PiS-Abgeordnete: „Für mich ist sie (die EU-Fahne – St.W.) ein Lappen (‚szmata‘), denn ich verbinde sie mit etwas sehr Schlechtem, Unguten, Schmutzigem.“ Denn das Gebilde, wofür die Fahne stehe, wolle „die Abschaffung der Nationalstaaten und unter anderem der Unabhängigkeit Polens…“.
Nun geht es der EU momentan wirklich nicht gut – aber am „Abgrund“? Wie könnte ein polnischer Beitrag zur Gesundung Europas aussehen? Wiederum Szczerski steuert einen solchen bei – polnischen (Arbeits)Migranten die spirituelle Erneuerung Europas anzuvertrauen: „Die Ausreise einer großen Anzahl polnischer Bürger eröffnet neue Möglichkeiten evangelisierender Aktionen im Westen…“ Diese PiS-Missionare müssten natürlich „das Feuer des Glaubens mit sich tragen […]. Daraus folgt die Pflicht, dafür zu sorgen, dass unsere Landsleute […] den Glauben nicht verlieren, sondern im Gegenteil: Dass sie, indem sie Zeugnis über ihre Freundschaft mit Christus ablegen, Evangelisten Europas werden.“ Dies könnte, so der Vorschlag, in einem „Katholischen Pass“ dokumentiert werden, auf dass diese, ja Gottgesandten „nicht den dortigen linksorientierten Moden nachgeben, sondern dass sie Gott und Polen treu bleiben, dass sie das Bewusstsein haben, dass auf ihnen die Pflicht lastet, diesen Glauben in ihrem Umfeld zu verbreiten“.
Entsprechende Überlegungen, die der Soziologe Andrzej Zybertowicz beisteuert, basieren auf einer quasi gleichen Analyse der westeuropäische Zivilisation, die sich durch einen Angriff auf das Christentum und einen „Hyperindividualismus“ auszeichne, erweitert um eine Technologie, „die sich der Menschen bemächtigen“ würde. Daraus folge mittelbar auch eine überzogene politische Korrektheit, die trotz ursprünglich „guter Intensionen“ nicht greife. Interessanterweise greift er in diesem Zusammenhang auch die Linke an, die von einer „sozialen Linken“ zu einer „Sitten-Linken“ („lewica obyczajowa“) verkommen sei; diese Kritik ist der hier geübten nicht unähnlich. In dieser Lage solle der polnische Staat sich weiter stabilisieren, beispielsweise durch einen Austausch der kosmopolitischen Eliten durch patriotische. Polen sollte sich dann unter anderem für „die Überwindung der Aufklärung, deren Fortschrittsvision auf einer unrealistischen Konzeption der menschlichen Natur aufbaue, einsetzen“. Zybertowicz rekurriert darüber hinaus auf die Drei-Meere-Initiative, die keine „Alternative“, jedoch ein „Korrektiv“ innerhalb der EU sei und diese „Region konsolidieren und der historischen Aufteilung in ein altes und ein neues Europa ein Ende setzen“ solle.
Das metaphysische Sendungsbewusstsein in Sachen Europa geht einher mit handfesten materiellen Phantasien; mittelbar haben letztere auch mit den Wahlen dieses Jahres zu tun. Präsident Duda will nämlich das in den letzten Jahren schon politisch weidlich ausgebeutete Thema deutscher Reparationszahlungen an Polen über die Europawahlen bis zu den Parlamentswahlen am Köcheln halten. Es verspricht Wählerstimmen. Ob mehr ist zweifelhaft, denn nach hiesiger Auffassung gibt es keine rechtliche Grundlage für die Reparationsforderungen, da diese in einem Abkommen von 1953 geregelt worden sei. Polens Machthaber halten dagegen diese Entscheidung für ungültig; sie habe nur für die DDR gegolten und sei auf sowjetischen Druck hin zustande gekommen. Streit mit Deutschland ist neuerdings immer willkommen, denn wenn es zwischen Warschau und Berlin kracht, kann man Brüsseler Verfahren gegen Polen – beispielsweise in Sachen Rechtsbeugung – als deutsche Rache diskreditieren. Dass das Thema Reparation so eher ideologisches, wahltaktisches Kampfmittel ist denn ernste Rechnung, deckt nolens volens auch ein PiS-Abgeordneter auf, wenn er fordert „dass der Sejm der neuen Legislaturperiode ein Gutachten über den von Sowjetrussland zugefügten Militärschaden erstellen muss“. Er selber sieht die Realisierung seiner Forderung dahingestellt, „weil das heutige Russland ein Land ist, das die internationale Rechtsordnung nicht respektiert“. Aha!
Ginge es nach Polens Konservativen, würde die EU zu einem christlichen, gottgefälligen Gebilde, das die Aufklärung zurückdrehte. Die EU hat’s schon schwer …
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