von Wolfgang Brauer
Nur zwei deutschsprachige Autoren des 20. Jahrhunderts ließ er für die jeweilige Jahrhunderthälfte gelten: Thomas Mann und Bertolt Brecht für die erste, für die zweite Arno Schmidt und sich selbst. Dieser Ausbund an Bescheidenheit wurde 1928 in Schlesien geboren, lebte bis 1955 in „Nazistan“ (wie er es nannte) und fortan in der DDR. Deren Literatur verkörperte er wie nur wenige andere auf höchstem künstlerischen und intellektuellen Niveau. Er war in beiden deutschen Staaten zeitweise gleichermaßen in den Buchhandlungen und auf den Bühnen präsent – oder wurde hüben wie drüben boykottiert. Kurz vor seinem Tod 2003 grübelte er darüber nach, ob er in seiner Person nicht doch „den immerwährenden Sieg der DDR über die BRD verkörpere“ – er meinte damit nach Ansicht seines Biographen „das Nichtzerstörbare des ostdeutschen Staates […] seine kulturelle Hinterlassenschaft, seine Literatur“.
Die Rede ist von Peter Hacks. Sein Biograph Ronald Weber hat jetzt einen 608-Seiten-Wälzer mit dem erschreckenden Untertitel „Leben und Werk“ vorgelegt. Ganz unpädagogisch das Negative zuerst: Den Untertitel hätte der Verlag ihm ausreden sollen und bei so mancher Stückanalyse – der Band besteht zu gefühlten zwei Dritteln aus solchen – hätte das „Eulenspiegel“-Lektorat dem Autor eine Kürzung ebenfalls um zwei Drittel nahe legen müssen. Nicht dass da Unsinn aufgeschrieben steht. Mitnichten! Aber von wenigen Kundigen abgesehen ist der Dichter Peter Hacks derzeit in der deutschsprachig lesenden Öffentlichkeit ein ziemlich toter Hund. Und von einigen kleinen Theatern des Landes – ach, ich liebe diese Bühnen! – abgesehen, ignorieren ihn die hochsubventionierten Prachtdampfer der Flotte Thalias fast vollständig. Genau dagegen schreibt Weber tapfer und kenntnisreich an. Aber man kann eine geliebte Person auch mit einem Zuviel an Zuwendung ersticken. Man muss nicht alles, was man weiß, zwischen zwei Buchdeckel pressen.
Jetzt das Positive. Ronald Weber bringt Biographie und Werk des Dichters und Dramatikers den Lesern auf eine Weise nahe, die in Permanenz zur Selbstüberprüfung eigener Lese- und Theatererfahrungen provoziert. Wer sich durch diesen Band gräbt, erliest sich eine Geschichte der DDR-Dramatik, genauer eine Kulturgeschichte der DDR, vermittelt durch das Medium Peter Hacks. Das macht den Wert dieses Buches aus.
Weber schildert die „Lehrjahre“ des Brechtschülers Hacks und den folgenden Bruch mit der Ästhetik des Meisters. 1974 bezeichnet Hacks schließlich Brecht als eine für ihn selbst – und damit meint er auch das DDR-Theater, es ist die Zeit der künstlerischen Stagnation des Berliner Ensembles – „überwundene Krankheit“, die nur für „unterentwickelte Länder“ brauchbar sei. Dieser harte Bruch Anfang der 60er Jahre hatte eng miteinander verwobene politische und ästhetische Ursachen. Hacks hält den Kapitalismus inzwischen für „widerlegt“. Ronald Weber zitiert einen Brief an Gerhard Piens aus dem Jahre 1962: „Didaktische Stücke über den Kapitalismus kotzen mich an.“ Er will sich aber auch nicht mit einer „Katzgraben“-Ästhetik – das geht gegen Erwin Strittmatter und die seinerzeitig politisch opportunen „Produktionsstücke – zufriedengeben. Er schreibe, wie Weber es anlässlich Hacksens „Moritz Tassow“ formuliert, über die „Utopie und ihre Möglichkeiten, ihre Daseinsberechtigung – und ihre Gefahren“.
Zeitgleich gerät Hacks zwischen alle kulturpolitischen Feuer, zwischen die man in jenen Jahren nur geraten kann. Weber beschreibt ausführlich die Auseinandersetzungen um das von Wolfgang Langhoff am 2. Oktober 1962 auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin gebrachte Stück „Die Sorgen und die Macht“. Nach immerhin 22 Vorstellungen wird es abgesetzt, Langhoff verliert die Intendanz des Hauses und ist ein endgültig gebrochener Mann. Weber verweist auf die zeitgleich laufenden, mindestens ebenso bösartigen Attacken auf Heiner Müller und dessen „Umsiedlerin“ sowie auf den von Stephan Hermlin am 11. Dezember 1962 veranstalteten „Lyrik-Abend“ in der Akademie der Künste in Ost-Berlin. Einen Zusammenhang der Anti-Hacks-Kampagne mit Letzterem verneint der Autor. Wer sich intensiver mit der Geschichte der DDR-Akademie beschäftigt weiß aber, dass diese Zusammenhänge offensichtlich sind. In der Folge verliert nicht nur Hermlin seinen Akademie-Posten. Ähnliches spielt sich in der Sektion Bildende Kunst ab. Auch hier gibt eine Präsentation junger Kunst den Anlass. Am Ende muss Akademiepräsident Otto Nagel seinen Stuhl für den biederen Parteivasallen Willi Bredel freimachen. Müller wird kaltgestellt, Peter Hacks hält öffentlich zu ihm. Ergebnis ist eine Freundschaft, die später – wie Weber schreibt – in eine Feindschaft übergeht, „die in der Geschichte der DDR-Literatur ihresgleichen sucht“.
Hacks selbst nimmt das gelassen „als den gewöhnlichen Ärger der Leitung mit der Dichtung und der Dichtung mit der Leitung“. Fortan gilt er vielen als Dissident, sieht aber nach wie vor im Sozialismus die Zukunft. In der DDR hat er allerdings einen schweren Stand, dennoch bezeichnet Ronald Weber die sechziger Jahre als Hacks‘ „golden sixties“. Hacks ist Anhänger des NÖS Walter Ulbrichts, bezeichnet ihn sogar als den größten deutschen Staatsmann überhaupt. Das von Erich Honecker, den er für eine dumme Nicht-Persönlichkeit hält, inszenierte 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965 empfindet er als gegen Ulbricht gerichtet. Weber teilt diese Interpretation: „Indem die Führungskader um Honecker die kulturpolitische Liberalisierung abwürgen, versetzen sie letztlich auch dem NÖS den Todesstoß.“ Hacks spürt das. Reformen, denen das gesellschaftliche Umfeld entzogen wird, müssen scheitern. Der irrationale Zustand, dass die SED-Führung permanent von den Künstlern fordert, sich der Gegenwart zuzuwenden, um sich bei Vorlage der Ergebnisse entsetzt von ihnen abzuwenden, führt zu einem ästhetischen Paradigmenwechsel bei Hacks. Er wendet sich vom „Zeitstück“ ab und dem Entwurf einen „neuen Klassik“ zu.
Theater solle sich als „Feier der menschlichen Möglichkeiten“ präsentieren, er fordert auf zur Besinnung „aufs eigentümlich Ästhetische“. Hacks legt 1972 seine Theorie im Essay-Band „Das Poetische“ dar. Im Rückblick schimmert hier allerdings die Begrenztheit seines Ansatzes durch. Seine Positionen bedürfen zu ihrer Wirksamwerdung nicht nur der gebildeten Schauspieler (Brechts Problem im „Kleinen Organon für das Theater“) – an das Publikum werden nicht minder hohe Anforderungen gestellt. Diese Geschäftsgrundlage wurde dem Theater nach dem Untergang des Sozialismus entzogen, die Hackssche Theaterkonzeption ist Geschichte. Die Wiederbelebung seiner Stücke wird eine neue Ästhetik benötigen – und die bedarf anderer gesellschaftlicher Voraussetzungen. Für die Geschichte des Welttheaters, das sei hier optimistisch angemerkt, ist das aber nichts Neues.
Ab Mitte der 1960er entstehen die großen „Königsdramen“ wie „Margarethe in Aix“, „Prexaspes“ und „Numa“, aber auch die „Charakterdramen“ wie „Amphytrion“, „Omphale“ sowie „Adam und Eva“. Begleitet wird dies vom vollständigen Bruch mit Heiner Müller, dessen „Macbeth“-Bearbeitung Hacks als „Schändung“ bezeichnet. Müller revanchiert sich durch eine Abqualifizierung der Hacksschen Ästhetik als „schwachsinnig“. Für Hacks ist Müller zudem für das „Regietheater“ haftbar zu machen, das für ihn Pest und Cholera auf den Bühnen zugleich ausmacht. Heiner Müller ist für Peter Hacks das Haupt der „romantischen Schule“. Was zunächst wie eine Debatte um die Erberezeption aussieht, wird zu einer grundsätzlichen und mit großer Erbitterung von allen Beteiligten geführten Auseinandersetzung um den Weg der sozialistischen Gesellschaft, um ihr Überleben oder ihren Untergang. „Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit des Untergangs in Betracht ziehen“, bilanziert Hacks 2001. Ronald Weber schildert diese bis über den Untergang der DDR hinausreichenden Auseinandersetzungen detailliert. Im Mittelpunkt steht dabei immer das Werk des Dichters, das auch bei seinen „historischen Stoffen“ immer mehr oder weniger unmittelbar die DDR und ihre Zustände zum Thema hat. Das betrifft die Stücke, das betrifft aber auch die Lyrik – die zum Besten gehört, was die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts hervorbrachte – , das betrifft auch die bezaubernden Kinderbücher.
„Wer Hacks liest, bekommt eine Ahnung davon, welche Macht die Kunst in einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus entfalten könnte“, schreibt Weber. Ihm ist uneingeschränkt zuzustimmen. Sein Buch ist eine Fundgrube.
Ronald Weber: Peter Hacks. Leben und Werk, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2018, 608 Seiten, 39,00 Euro.
Schlagwörter: Biographie, DDR-Literatur, Dramatik, Peter Hacks, Wolfgang Brauer